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Menschenrechte und 75 Jahre Vereinte Nationen

Hannah Birkenkötter Lisa Heemann

/ 15 Minuten zu lesen

Wie haben sich seit der Gründung der Vereinten Nationen das Netz menschenrechtlicher Normen und sein flankierendes institutionelles Gefüge entwickelt? Wie kann das UN-Menschenrechtssystem angesichts der zunehmenden Abkehr vom Multilateralismus gestärkt werden?

Multilateralismus bezeichnet eine auf Dauer angelegte, von gemeinsamen Werten und Überzeugungen getragene regelbasierte Zusammenarbeit von Staaten und bildet damit den Gegensatz zur einseitigen Durchsetzung nationalstaatlicher Einzelinteressen. Die vor 75 Jahren gegründeten Vereinten Nationen sind die multilaterale Organisation schlechthin. Die UN-Charta ist ein Bekenntnis zur Kooperation aller Staaten. Sie betont deren souveräne Gleichheit und formuliert ein Bekenntnis zu den drei Säulen Frieden, Entwicklung und Menschenrechte sowie klare Regeln der Zusammenarbeit. Die Vereinten Nationen sind das einzige universelle Forum – nahezu alle Staaten der Welt sind Mitglied – und einzigartig in Bezug auf die Breite der Themen, die sie bearbeiten.

Um die Menschenrechte als eine der drei zentralen Säulen der Vereinten Nationen soll es im Folgenden gehen. Heute existiert ein umfassendes Netz menschenrechtlicher Normen: Neben der sogenannten International Bill of Human Rights, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und die zwei Internationalen Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) umfasst, gibt es sieben weitere Kern-Menschenrechtsverträge samt Zusatzprotokollen, außerdem eine Vielzahl von Erklärungen, Resolutionen, Mindeststandards und Grundprinzipien. Diese Normenvielfalt wird von einem komplexen institutionellen Gefüge flankiert.

Wie hat sich dieses UN-Menschenrechtssystem über die vergangenen 75 Jahre entwickelt? Und wie können wir es angesichts des derzeitigen Widerstands gegen den Multilateralismus stärken?

Erste Schritte des UN-Menschenrechtssystems

In der UN-Charta sind die Menschenrechte in Artikel 1 Absatz 3 zwar benannt, sie enthält aber keinen eigenen Rechtekatalog. Die Idee eines solchen stand im Vorfeld der UN-Gründungskonferenz in San Francisco 1945 im Raum, wurde dann aber vertagt. Stattdessen wurde die UN-Menschenrechtskommission, ein Unterorgan des Wirtschafts- und Sozialrates bestehend aus 18 Staatenvertreter*innen, damit beauftragt, einen internationalen Menschenrechtskodex zu erarbeiten. Dieser sollte ursprünglich aus einer Erklärung, einem verbindlichen Vertragswerk sowie Maßnahmen zu dessen Umsetzung bestehen.Die AEMR wurde 1948 verabschiedet, die Verhandlungen zum verbindlichen Vertragswerk, das ab den frühen 1950er Jahren in zwei Verträge aufgespalten wurde, zogen sich im Lichte des Ost-West-Konflikts aber noch über beinahe zwei Jahrzehnte: Erst 1966 verabschiedete die UN-Generalversammlung die beiden Menschenrechtspakte.

Parallel zu den Verhandlungen der beiden Pakte bot die Abteilung für Menschenrechte im UN-Generalsekretariat seit den 1950er Jahren "advisory services in the field of human rights" an. Diese umfassten unter anderem die Entsendung von Menschenrechtsexpert*innen auf Anfrage von Mitgliedstaaten, ein Stipendienprogramm für Verwaltungsbeamt*innen aus neuen Mitgliedstaaten sowie regelmäßige Seminare. Diese Maßnahmen waren und sind bis heute freiwillig. Damit waren die Angebote im Bereich der Menschenrechte in den frühen Jahrzehnten des Bestehens der Vereinten Nationen zwar maßgeblich für die Verbreitung von Wissen über menschenrechtliche Standards und Informationsaustausch, hielten aber am Grundprinzip der staatlichen Zustimmung fest.

Aufwind ab den 1960er Jahren

Das änderte sich ab den späten 1960er Jahren mit der Berichterstattung durch unabhängige Expert*innen zu Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Mitgliedstaaten, die heute als "Sonderverfahren" bekannt sind. Als erstes Sonderverfahren gilt die 1967 eingerichtete Ad-hoc-Expert*innen-Arbeitsgruppe eminenter Jurist*innen, die damit beauftragt wurde, der UN-Menschenrechtskommission regelmäßig über die Menschenrechtslage in Apartheid-Südafrika zu berichten. In der Arbeitsgruppe lagen gleich zwei wichtige Neuerungen: Nicht nur wurde sie ohne Zustimmung Südafrikas gegründet, sie war außerdem befugt, Beschwerden von Einzelpersonen zu hören und zu verwerten. Während die Mitgliedstaaten ursprünglich nicht beabsichtigten, ein komplett neues Verfahren einzurichten, enthielten die relevanten Resolutionen Textpassagen wie "Menschenrechtsverletzungen (…) wo auch immer sie auftreten" oder "Menschenrechtsverletzungen (…) in allen Mitgliedstaaten". Dies erlaubte der Menschenrechtskommission in der Folge, in Chile oder Bolivien und zu bestimmten menschenrechtlich relevanten Themen wie außerrechtliche Tötungen insbesondere durch paramilitärische Gruppen unabhängige Sonderberichterstatter*innen zu berufen. Heute gibt es über 50 solcher Berichterstatter*innen zu verschiedenen Themen und Ländern.

Es war kein Zufall, dass das erste Sonderverfahren in die zweite Hälfte der 1960er Jahre fiel. Denn ab diesem Jahrzehnt erfuhren auch das menschenrechtliche Vertragswesen und der allgemeine menschenrechtliche Diskurs erheblichen Aufwind: 1965 wurde zunächst das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung verabschiedet, 1966 folgten der Zivil- und der Sozialpakt. 20 Jahre nach der AEMR fand 1968 die erste Weltmenschenrechtskonferenz in Teheran statt, auf der die Mitgliedstaaten ihr Bekenntnis zu internationalen Menschenrechten bekräftigten, aber auch feststellten, dass auf der Umsetzungsebene noch viel zu tun sei.

Durch das Übereinkommen gegen Rassendiskriminierung und die beiden Pakte wurde ein weiteres Instrument des UN-Menschenrechtssystems ins Leben gerufen: die Vertragsausschüsse. Hierbei handelt es sich um Expert*innenausschüsse, die mit "Persönlichkeiten von hohem sittlichen Ansehen" besetzt sind, die in ihrer persönlichen Eigenschaft handeln, also nicht weisungsgebunden sind. Die Vertragsausschüsse nehmen im Wesentlichen drei Aufgaben wahr: Sie geben auf der Grundlage von Berichten individuelle Empfehlungen zur Umsetzung an die Vertragsstaaten ab; sie sind – sofern sich die Vertragsstaaten diesem Verfahren unterworfen haben – befugt, Beschwerden von Einzelpersonen zu untersuchen; und sie geben Allgemeine Empfehlungen und Kommentare heraus, die einzelne Vertragsbestimmungen präzisieren. Neben den Ausschüssen zu den drei bereits erwähnten Verträgen existieren heute Ausschüsse für die Frauenrechtskonvention von 1979, die Anti-Folterkonvention von 1984, die Kinderrechtskonvention von 1989, die Wanderarbeiterrechtskonvention von 1990 sowie für die Behindertenrechtskonvention und die Konvention gegen das Verschwindenlassen von 2006.

Ein weiterer Baustein des heutigen UN-Menschenrechtssystems sind die nationalen Menschenrechtsinstitutionen. Bereits 1946 hatte der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen die Mitgliedstaaten aufgefordert, zu prüfen, ob lokale Informationsgruppen in den Mitgliedstaaten errichtet werden könnten, um die Arbeit der UN-Menschenrechtskommission durch Informationskampagnen zu unterstützen. Diese Idee bekam nach dem Inkrafttreten der beiden Menschenrechtspakte 1976 neuen Aufwind. Zum 30-jährigen Jubiläum der AEMR wurden 1978 Richtlinien für die Einrichtung nationaler Menschenrechtsinstitutionen verabschiedet, allerdings gab es sie bis 1993 nur in 29 Staaten. Dies änderte sich mit den Pariser Prinzipien von 1993, in denen die Staaten explizit dazu aufgefordert wurden, nationale Menschenrechtsinstitutionen einzurichten, die als unabhängige Organisationen nicht nur ihre jeweilige Regierung in Menschenrechtsfragen beraten und die Öffentlichkeit über Menschenrechte informieren sollten, sondern auch die Ratifikation von UN-Menschenrechtsverträgen und deren Umsetzung aktiv fördern, zu Berichten im Rahmen der UN-Menschenrechtsberichtsverfahren beitragen und mit den Vereinten Nationen auf dem Gebiet der Menschenrechte zusammenarbeiten sollten. Die Pariser Prinzipien sind noch heute die Leitlinie für die derzeit 114 nationalen Menschenrechtsinstitutionen.

Nach dem Kalten Krieg: Enthusiasmus und Ernüchterung

Das Jahr 1993 markiert mit der zweiten Weltmenschenrechtskonferenz in Wien einen Meilenstein in der Geschichte des UN-Menschenrechtssystems. In der Abschlusserklärung bekräftigten die Mitgliedstaaten die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit aller Menschenrechte, und das Wiener Aktionsprogramm enthielt Empfehlungen für mehrere wegweisende Schritte, unter anderem die Einrichtung des Hochkommissariats für Menschenrechte als zentrale Anlauf- und Koordinierungsstelle im UN-Generalsekretariat und einen stärkeren Fokus auf die technischen Hilfsprogramme im Bereich Menschenrechte.

Diese institutionelle Stärkung der Menschenrechte wurde durch den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan weiter vorangetrieben, der in seiner ersten Reform 1997 veranlasste, dass Menschenrechte als Querschnittsthema in allen Arbeitsbereichen der Vereinten Nationen, insbesondere also in der Entwicklungszusammenarbeit und in der Friedenssicherung, eine herausgehobene Rolle spielen sollten. Ein weiterer Meilenstein war die Verabschiedung des Romstatuts zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs 1998.

Die langen 1990er Jahre waren aber auch von Ernüchterung geprägt. Während 1993 die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien tagte, wurden keine tausend Kilometer entfernt auf dem Balkan Kriegsverbrechen begangen, deren trauriger Höhepunkt 1995 der Völkermord von Srebrenica markierte. 1994 fiel in Ruanda ein Fünftel der Bevölkerung einem Genozid zum Opfer. In beiden Situationen waren die Vereinten Nationen machtlos und zogen sogar Blauhelmtruppen aus der Krise ab.

In der Folge wurde das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect) entwickelt, das im Grundsatz 2005 durch die Staatengemeinschaft anerkannt wurde. Es sieht eine staatliche Verantwortung für den Schutz der eigenen Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft vor, Staaten zu unterstützen, Frühwarnsysteme zu entwickeln und im Ernstfall Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta zu ergreifen. Allerdings fehlte und fehlt es der Schutzverantwortung an institutionellen Durchsetzungsmechanismen: Ein Veto im UN-Sicherheitsrat hat sich zuletzt auch angesichts von Kriegsverbrechen in Syrien als nicht zu verhindern erwiesen, und im Rahmen der Intervention in Libyen 2011 hat sich die westliche Allianz außerdem dem Vorwurf ausgesetzt, unter dem Deckmantel der Schutzverantwortung Regimewechsel zu veranlassen.

In den 1990er Jahren geriet auch die UN-Menschenrechtskommission zunehmend in die Kritik. Angewachsen von 18 auf 53 Vertreter*innen war die Kommission unfähig, auf Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, und ihr wurde vorgeworfen, einseitig bestimmte Länder anzuprangern, während sie gleichzeitig Vertreter*innen autoritär regierter Staaten im Konsensverfahren in ihre Reihen wählte. 2006 stellte die Kommission ihre Arbeit ein. An ihre Stelle trat der UN-Menschenrechtsrat mit einigen wesentlichen Neuerungen: Als Unterorgan der UN-Generalversammlung erhielt der Rat eine prominentere Stellung im UN-System. Noch wichtiger war aber die Einführung der Allgemeinen Periodischen Überprüfung, der sich jeder Mitgliedstaat unabhängig von seiner Menschenrechtslage durch die anderen Mitgliedstaaten unterziehen muss. Zudem kann der UN-Menschenrechtsrat durch Sondersitzungen, die durch ein Drittel der Mitglieder jederzeit einberufen werden können, schneller auf Menschenrechtskrisen reagieren und hat einige wichtige Untersuchungskommissionen ins Leben gerufen, unter anderem zu Syrien und Nordkorea.

Auch wenn Menschenrechte heute aus dem internationalen Diskurs nicht mehr wegzudenken sind, bleiben viele Kritikpunkte offen. Das betrifft auch die Vereinten Nationen als Organisation selbst: Lange sahen sie sich nicht unmittelbar an die Standards gebunden, für deren Einhaltung sie warben, und lehnten eine rechtliche Verantwortung für das Fehlverhalten von Blauhelmsoldaten ab, etwa im Fall von Srebrenica, als Blauhelmsoldaten den Genozid an bosnischen Muslimen nicht verhinderten, oder in Haiti, wo Blauhelmsoldaten vermutlich für den Ausbruch der Cholera verantwortlich waren. Auch der UN-Sicherheitsrat hat über seine Blockade angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen hinaus Kritik aus menschenrechtlicher Sicht auf sich gezogen, indem er etwa Sanktionen erließ, ohne dass den betroffenen Individuen der Rechtsweg gegen diese Maßnahmen offenstand. Die Frage, inwieweit Wirtschaftsunternehmen an internationale Menschenrechte gebunden sind, gehört zu den nach wie vor umstritteneren Punkten auf der Agenda.

Krise des Multilateralismus

Das UN-Menschenrechtssystem sieht sich heute allerdings einer weiteren Gefahr ausgesetzt, die im weiteren Kontext der derzeit beschworenen Krise des Multilateralismus betrachtet werden muss. Der Eindruck dieser Krise lässt sich heute vor allem an der Haltung der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump festmachen, die unter dem Motto "America first" eine Abkehr vom Multilateralismus vollziehen, den sie seit 1945 stark geprägt haben. So haben sich die USA polternd aus wichtigen UN-Unterorganen und Abkommen wie dem Menschenrechtsrat oder dem Pariser Klimaabkommen zurückgezogen. Schon kurz nach seinem Amtsantritt kürzte Trump die Zahlungen an die Vereinten Nationen, verbunden mit deutlicher Kritik an der Organisation. Mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Multilateralismus sind die USA nicht allein. Auch in anderen Staaten herrschen nationalistische Töne vor und werden die Vereinten Nationen und die Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit offen infrage gestellt, etwa in Brasilien unter dem rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Laut UN-Generalsekretär António Guterres ist der Multilateralismus "under fire precisely when we need it most".

Um zu bestimmen, inwiefern die Krise des multilateralen Denkens die Vereinten Nationen selbst in eine Krise stürzen, sind Angriffe und Krisensymptome auf unterschiedlichen Ebenen zu unterscheiden: Halten sich die Staaten an bestehende Normen? Gelingt es, neue Normen und Problemlösungen zu entwickeln? Wie handlungsfähig sind die Vereinten Nationen auf operativer Ebene?

Die Bilanz fällt gemischt aus. Grundsätzlich hat die regelbasierte internationale Ordnung Bestand. Die Öffentlichkeit beziehungsweise die Staatengemeinschaft reagiert zu Recht scharf auf Regelbrüche wie die Annexion der Krim durch Russland 2014 oder die gezielte Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani 2020 durch die USA. Diese bleiben aber (noch) die zu verurteilende Ausnahme in der alltäglichen internationalen Zusammenarbeit. Das Beispiel des Konflikts in Syrien zeigt, dass die Vereinten Nationen in der Krise des Multilateralismus zugleich bei der Problemlösung blockiert und auf operativer Ebene unverzichtbar sein können: Seit Jahren verhindern die Veto-Mächte eine politische Lösung im UN-Sicherheitsrat. Dafür erzielten andere UN-Akteure kleine, aber wichtige Fortschritte. So ermöglichte die Generalversammlung zum Beispiel die Untersuchung der schwersten völkerrechtlichen Verbrechen in Syrien, während das Hohe Flüchtlingskommissariat und das Welternährungsprogramm auch nach dem Rückzug vieler Hilfsorganisationen den Menschen in Syrien noch Beistand leisten.

Eine unmittelbare Gefahr für die Vereinten Nationen entsteht vor allem durch Unterfinanzierung. Neben strukturellen Fragen wie der zunehmenden Zweckbindung von Mitteln oder Dissens über die Verteilung der Gelder ist das größte Problem dabei die schlechte Zahlungsmoral der UN-Mitglieder: Viele Staaten zahlen ihre Beiträge nicht vollständig und pünktlich, sodass die Vereinten Nationen kurzfristig ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen und tatsächlich auch auf operativer Ebene handlungsunfähig werden können. Häufig fehlt zum Jahresende das Geld für Gehälter, oder Sitzungen entfallen, weil Übersetzungen nicht finanziert werden können. Erst Ende 2019 zeigte sich wieder, wie schnell die Finanznot die Arbeit der Vereinten Nationen gefährden kann.

Menschenrechtssystem unter Druck

Die Krise des Multilateralismus betrifft auch das internationale Menschenrechtssystem und setzt dieses sogar ganz besonders unter Druck. Nicht nur sind die Menschenrechte und jene, die sie verteidigen, in vielen Staaten heftigen Angriffen ausgesetzt und werden Menschenrechtsorganisationen in ihrer Arbeit behindert – einige Staaten setzen vermehrt auch innerhalb der Vereinten Nationen darauf, die Beteiligung menschenrechtlicher NGOs zu beschneiden und den Einfluss kritischer Stimmen zurückzudrängen.

Dies gilt besonders etwa mit Blick auf die Menschenrechte von Frauen und Standards der Geschlechtergerechtigkeit. Der Rechtspopulismus, aus dem sich die Ablehnung multilateraler Kooperation speist, zeichnet sich auch durch Antifeminismus aus. Rechtspopulistische Regierungen versuchen, die in den 1990er Jahren erreichten Standards zur Geschlechtergerechtigkeit zu untergraben. Schon innerhalb der EU können sich die Mitgliedstaaten nicht mehr auf gemeinsame Positionen zu sexuellen und reproduktiven Rechten einigen. Auf globaler Ebene treten die Differenzen inzwischen jährlich auf der Sitzung der Frauenrechtskommission im März in New York zutage. Im April 2019 kam es auch im UN-Sicherheitsrat zu einer Konfrontation: Die USA lehnten einen Resolutionsentwurf zur Agenda für Frauen, Frieden und Sicherheit ab, der die Rechte von Überlebenden sexualisierter Gewalt bekräftigen sollte. Erst nachdem das vorsitzende Deutschland den Absatz zu sexuellen und reproduktiven Rechten gestrichen hatte, stimmten die USA zu.

Auch wenn das internationale Menschenrechtssystem schon immer Anfechtungen von unterschiedlichen Seiten ausgesetzt war, löst das Handeln einiger weniger Staaten besondere Sorgen aus, weil sie das wirtschaftliche und politische Gewicht mitbringen, um die Menschenrechte innerhalb der Vereinten Nationen dauerhaft zu schwächen. Dazu gehören nicht nur die Vereinigten Staaten, die bisher in vielerlei Hinsicht als Vorkämpfer für Menschenrechte galten, auch China hat eigene Strategien entwickelt, um Menschenrechte im UN-System zu schwächen. Im UN-Menschenrechtsrat wehrt China Resolutionen, die die Menschenrechtslage im eigenen Land in den Blick nehmen, mit dem Hinweis ab, es handele sich um unzulässige Einmischungen in innere Angelegenheiten. Statt menschenrechtlicher Pflichten setzt China auf unverbindliche Formeln wie "Community with Shared Future for Mankind". Die Idee einer Gemeinschaft oder Menschenfamilie wird dabei lose in Beziehung gesetzt zu Frieden, Sicherheit, Wohlstand oder auch Sauberkeit, Schönheit und Harmonie. Menschenrechtlich gesehen steht das Recht auf Entwicklung im Fokus, mit Hinweis auf die erfolgreiche Armutsbekämpfung in China. Gleichzeitig wird die nationale Souveränität betont und die Bedeutung politischer und bürgerlicher Rechte herabgestuft. Auch Russland geht der internationale Menschenrechtsschutz zu weit. Seine Vertreter*innen sprechen sich gegen jede Nennung und Verurteilung souveräner Staaten im UN-Menschenrechtsrat aus, und auch in anderen UN-Foren wehrt Russland Diskussionen über Menschenrechte ab. Im März 2018 verhinderte Russland zum Beispiel eine formale Unterrichtung des UN-Sicherheitsrates durch den Hochkommissar für Menschenrechte.

Ausblick

Im Bereich der Menschenrechte ist in den vergangenen 75 Jahren viel erreicht worden. Die Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten unterstützt und fördert die Menschenrechte auch in der heutigen Krise des Multilateralismus und stellt sie im Grundsatz nicht infrage. Dass sich die Staaten zum Beispiel der neuen, mühsamen Prozedur der Allgemeinen Periodischen Überprüfung im UN-Menschenrechtsrat stellen und ihre Menschenrechtsbilanz von anderen Staaten erstellen lassen, war vor 75 Jahren unvorstellbar. Kritisch und für die Glaubwürdigkeit internationaler Menschenrechte gefährlich wird die Krise des Multilateralismus aber durch die drohende finanzielle Austrocknung. Die Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen wird untergraben, indem die Budgets für das Hochkommissariat für Menschenrechte drastisch gekürzt werden. Menschenrechtsorganisationen warnen die Mitgliedstaaten deswegen eindringlich vor den Konsequenzen weiterer Einschnitte und erbitten auch Unterstützung vom UN-Generalsekretär.

Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinten Nationen müssen Menschenrechte besonders thematisiert werden: Dazu gehört in erster Linie die Entwicklung einer menschenrechtlichen Vision für die nächsten 25, besser noch die nächsten 50 Jahre. Das beinhaltet zum einen, verschiedene institutionelle Prozesse zu bündeln und die Menschenrechtsarbeit sowohl auf Ebene des UN-Hauptquartiers als auch zwischen Genf und dem operativen Geschäft besser zu koordinieren. Für Mitgliedstaaten wie Deutschland, die sich die Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahnen schreiben, bedeutet eine solche menschenrechtliche Vision vor allem, die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen vor Ort und bei den Vereinten Nationen entschieden zu unterstützen. Dies erfordert eine enge strategische Zusammenarbeit im UN-Menschenrechtsrat, aber auch mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte. Die Menschenrechte sind ein Herzstück der Arbeit der Vereinten Nationen – das sollte zu ihrem 75. Geburtstag nicht vergessen werden.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN). E-Mail Link: hannah.birkenkoetter@rewi.hu-berlin.de

ist promovierte Juristin und seit 2016 Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN). E-Mail Link: heemann@dgvn.de