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Klimaschutz als Aufgabe für Politik und Gesellschaft

Charlotte Unger Daniel Oppold Charlotte Unger / Daniel Oppold

/ 33 Minuten zu lesen

Um globale Klimaschutzziele zu erreichen, müssen möglichst alle Staaten aktiv, fair und eigenverantwortlich zusammenarbeiten. Das gilt besonders für Deutschland, die EU und ihre Mitgliedstaaten als dem Interessenausgleich verpflichtete Demokratien.

Solarbetriebene Heißwasserbereiter auf den Dächern der Siedlung Kuyasa am Rand von Kapstadt sind 2008 Südafrikas erstes Clean Development Mechanism (CDM)-Projekt, unterstützt durch die UN. (© picture-alliance / dpa | epa Nic Bothma)

Globale Klimapolitik

Charlotte Unger
Der Klimawandel macht als globales Problem vor keiner Region dieser Erde halt. In den 1970er-Jahren begann durch stetig wachsende wissenschaftliche Forschung, das Bewusstsein über die globale Erderwärmung zu wachsen. Viele Länder stimmten nun zu, dass man der Herausforderung, den Klimawandel aufzuhalten, nur mit einem gemeinschaftlichen Ansatz begegnen könne.
Von besonderer Bedeutung war die Einrichtung des Weltklimarats IPCC (siehe auch Kapitel "Das Verhältnis von Klimawissenschaft und Politik") im Jahr 1988. Nach den ersten internationalen Klimakonferenzen Ende der 1970er- und der 1980er-Jahre war der Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro bahnbrechend. Hier wurde die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) beschlossen und die Industrienationen verpflichteten sich zur Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen. Sie versprachen (auf freiwilliger Basis), bis zum Jahr 2000 wieder ihre Emissionswerte aus dem Jahr 1990 einzuhalten.

Stationen der Klimadiplomatie: Weltklimagipfel (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 665 052 (aktualisiert))

Das Kyoto-Protokoll

Erst einige Jahre später konnten sich die Länder auf ein rechtlich verbindliches Klimaabkommen einigen, das für die praktische Umsetzung der Rahmenkonvention sorgen sollte. Im Jahr 1997 wurde das Kyoto-Protokoll verabschiedet. Es dauerte jedoch noch bis 2005, bis genug Länder das Abkommen ratifiziert hatten, um es in Kraft treten zu lassen.

Zunächst für eine Dauer von 2008 bis 2012 regulierte der Vertrag sechs der wichtigsten Treibhausgase: Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Distickstoffmonoxid bzw. Lachgas (N2O), Fluorchlorkohlenwasserstoffe bzw. F-Gase (HFC) und perfluorierte Kohlenwasserstoffe (PFC) sowie Schwefelhexafluorid (SF6). Vorgesehen war, deren Ausstoß um mindestens 5 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken, um "eine gefährliche vom Menschen verursachte Störung des Klimasystems zu verhindern".
Das Abkommen enthielt auch eine Aufteilung in Industriestaaten und Entwicklungsländer. Heute wird meist von Ländern des Globalen Südens gesprochen, um die wertende Bezeichnung Entwicklungs- und Schwellenländer zu vermeiden. Das Kyoto-Protokoll versuchte der historischen Verantwortung von Industrieländern für den Klimawandel beizukommen, indem es die Summe der Minderungsverpflichtungen nur unter ihnen aufteilte.

Zudem legte es konkrete Werkzeuge fest, wie die Länder im Klimaschutz aktiv werden können. Wichtiger Bestandteil sind sogenannte Markt- oder auch Kyoto-Mechanismen. Hier werden in Klimaschutzprojekten entstehende Emissionsreduktionen zertifiziert. Diese Zertifikate können verkauft werden. Der Käufer (z. B. Länder oder Unternehmen) kann sie auf seine eigenen Verpflichtungen zur Verringerung von Treibhausgasemissionen anrechnen und muss dann selbst, "zu Hause" etwas weniger tun.

Im "Internationalen Emissionshandel", einem eigenständigen Instrument unter dem Kyoto-Protokoll, handeln die Industrieländer untereinander mit ihren durch das Kyoto-Protokoll zugeteilten Emissionszertifikaten. Reduziert ein Land mehr als sein festgelegtes Kyoto-Ziel, kann es überschüssige Zertifikate an ein anderes Land verkaufen. In sogenannten Joint Implementation-Projekten produzieren Projektbetreiber in Industrie- ländern Emissionszertifikate, die sie an andere Industrieländer weiterverkaufen.

Am weitesten verbreitet ist der Clean Development Mechanism (CDM). Hier erzeugen Klimaschutzprojekte in einem Land des Globalen Südens Emissionszertifikate und veräußern diese an Industrieländer. Mit dem CDM wurde einerseits mehr Flexibilität für Industrieländer geschaffen, anderseits hatten damit auch die Länder des Globalen Südens die Möglichkeit, zum Klimaschutz beizutragen und über den Verkauf von Zertifikaten finanzielle Unterstützung zu erhalten.

Obwohl das Kyoto-Protokoll ein Meilenstein der internationalen Klimapolitik war, hatte es auch viele Schwachstellen. Seine Mechanismen wurden als ineffizient kritisiert – beispielsweise stand der CDM in Verruf, viele Schlupflöcher und gar Betrugsgeschäfte zuzulassen. Außerdem waren nicht alle großen Treibhausgasverursacher dabei: Die USA ratifizierten den Vertrag gar nicht erst, Kanada trat im Jahr 2011 aus und andere große Treibhausgasverursacher wie Indien oder China hatten keine Minderungsverpflichtungen.

Zwar wurden die versprochenen Treibhausgasminderungen schließlich formal sogar übertroffen, aber das lag vor allem daran, dass große Treibhausgasverursacher wie die USA oder Kanada nicht mehr dazu gezählt wurden. Ein weiterer großer Anteil der Minderungen resultierte aus der Stilllegung von Industrien nach Auflösung der Sowjetunion und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und geschah bereits vor Unterzeichnung des Abkommens. Sie können deshalb streng genommen nicht als Erfolg des Abkommens gewertet werden. Auch die Finanzkrise 2008/2009 verringerte die Produktion in den Industrieländern und ließ die Emissionen automatisch schrumpfen. Schließlich erwies sich, dass einige Länder ihre Ziele nur durch den massiven Kauf von Emissionszertifikaten erreichten.

Es gibt daher viele Stimmen, – besonders aus der Wissenschaft –, die das Kyoto-Protokoll nicht als Erfolg werten, weil es dem schnellen weltweiten Emissionsanstieg nicht wirksam Einhalt gebieten konnte.

Streit um die historische Verantwortung

Bereits während der Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll schwelte ein Streit zwischen Industriestaaten und Ländern des Globalen Südens. Die Konfliktlinien sind bis heute vorhanden. Es geht darum, wer, wann wie viele Treibhausgase zu senken hätte und wie Treibhausgasminderung sowie Anpassung an den Klimawandel zu bezahlen seien.

Die Länder des Globalen Südens werfen den Industrieländern vor, dass diese die Hauptverantwortung für den Klimawandel trügen. Historisch gesehen hätten sie, seit der Industriellen Revolution die meisten Treibhausgase ausgestoßen und damit die bereits jetzt eingetretene Erwärmung von 1°C ausgelöst.

Der Globale Süden argumentiert, dass auch er ein Recht auf industriellen Fortschritt und die damit einhergehenden Treibhausgasemissionen habe. Daher sollten Industrieländer ihre Treibhausgase (stärker) reduzieren, aber auch für die Kosten des Klimawandels aufkommen. Hierfür wird der Begriff "Verluste und Schäden" benutzt. Viele Länder des Globalen Südens fordern einen rechtlichen Anspruch auf einen (finanziellen) Ausgleich der Schäden, die sie durch den Klimawandel erleiden.

Dem halten die Industrieländer entgegen, dass der Klimawandel ohne die Mithilfe der Länder des Globalen Südens nicht zu stoppen sei. Besonders wichtige Schwellenländer wie China oder Indien, deren Wirtschaftswachstum Energieverbrauch und Treibhausgasausstoß ansteigen ließ, sollten einen eigenen Beitrag zu den Minderungen leisten. Vor allem aber gibt es Vorbehalte in der Finanzierungsfrage. Die meisten Industrieländer wollen sich nicht festlegen oder längerfristige finanzielle Zusagen machen.

Diese Streitigkeiten machten es schwierig, sich auf die Klimapolitik ab 2012, die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll, zu einigen. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stritten über Jahre hinweg und viele der jährlichen Verhandlungen endeten ohne nennenswerte Ergebnisse. Erst im Jahr 2012 wurde vereinbart das Kyoto-Protokoll zu verlängern, jedoch mit weniger Erfolg. Große Treibhausgasverursacher wie die USA, Kanada, Japan und Russland oder aber China und Indien waren nicht dabei. Die Staaten, die an der zweiten Periode des Kyoto-Protokolls teilnahmen, waren insgesamt nur noch für knapp 15 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich.

Das Pariser Klimaabkommen

Positiv hervorzuheben ist vielleicht, dass in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends langsam das Bewusstsein wuchs, dass Klimaschutz alle Lebensformen und -bereiche unserer Erde betrifft. Die internationale Klimaschutz-Zusammenarbeit erweiterte sich deshalb um viele weitere Themen sowie neue Akteurinnen und Akteure. So wurden nun beispielsweise auch Anpassungsmaßnahmen zusätzlich zur Bekämpfung des Klimawandels verhandelt.

Nach Jahren zäher Verhandlungen stellte das Pariser Klimaabkommen einen Höhepunkt der internationalen Klimapolitik dar. Verabschiedet im Jahr 2015, trat es bereits etwa ein Jahr später in Kraft und betrifft die Zeit nach 2020.

Der Vertrag legt ein übergeordnetes Ziel fest: Die Erderwärmung soll "deutlich unter 2°C" gehalten werden, und es sollen weitere Anstrengungen unternommen werden, um den Temperaturanstieg auf 1,5°C zu begrenzen. Denn der Weltklimarat (IPCC) geht davon aus, dass die schlimmsten Folgen für den Planeten noch abgewendet werden können, wenn die Erderwärmung auf 1,5°C begrenzt wird. Diese Annahme beruht auf einer Berechnung eines Gesamtbudgets an Treibhausgasen, das der Welt theoretisch noch zur Verfügung steht, bevor 1,5°C Erwärmung erreicht werden.

QuellentextGlobale Gerechtigkeit beim Klimaschutz

Karikatur: Leben in Wohlstand und Überfluss (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

[…] Was ist Gerechtigkeit in der Klimakrise? Blickt man auf die deutsche Debatte – und die vieler anderer westlicher Länder –, bekommt man zwei Antworten. Für die einen besteht Gerechtigkeit vor allem darin, bei Maßnahmen wie Kohleausstieg, CO2-Steuer oder Energiewende auf mögliche Verlierer zu achten: Arbeiter in der Kohleindustrie, Pendler, die ihr Auto brauchen, Anwohner, die gegen Windräder protestieren. Verfechter dieser Klima-Gerechtigkeit findet man in fast allen politischen Parteien. Ihr Motto beim Klimaschutz lautet: "Ja, aber". Ja, Klimaschutz ist wichtig, aber er soll sozialverträglich sein und möglichst keine Wähler verprellen.

Für andere wie die Demonstranten der "Fridays for Future"-Bewegung besteht Klima-Gerechtigkeit vor allem darin, jüngeren und zukünftigen Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, deren Durchschnittstemperatur nicht mehr als 1,5 Grad angestiegen ist. Ihr Motto: "Es ist fünf vor zwölf".

Beide Antworten sind natürlich richtig. Das Problem ist, dass die größte und dramatischste Gerechtigkeitslücke kaum vorkommt: die globale. Wir wissen zwar, dass die Überhitzung der Erde eine entgrenzte Bedrohung ist, dass sie Dürren in Afrika begünstigt, das Grönlandeis schmelzen und den Meeresspiegel steigen lässt. Aber in unserem Kopfkino taucht bei diesen Meldungen eher der gefährdete Eisbär auf. Nicht die […] Bewohner von Inseln wie Tuvalu im Pazifik, die bereits ihre Umsiedlung planen müssen.

Die ewige Warnung des "Es ist fünf vor zwölf" erweist sich also als Illusion. In Mosambik, dessen Küste von immer heftigeren Stürmen verwüstet wird, ist es Viertel nach zwei, in Bang- ladesch, dessen gigantische Flussdelta-Landschaft untergeht, ist es halb vier. Die Menschen dort fürchten nicht nur um ihre Zukunft, sie erleben gerade die Zerstörung ihrer Gegenwart durch eine Katastrophe, zu der sie selbst kaum beigetragen haben. Dem Global Carbon Atlas zufolge steht Mosambik auf der Liste der CO2-Verursacher auf Platz 104, Deutschland [...] auf Rang sechs. […]

All das kann längst jeder wissen, der es wissen will. Dass diese Krise die armen Staaten am härtesten trifft, betont der Weltklimarat seit Jahren. Gerechtigkeit, Entschädigung und Kompensation sind Dauerthemen auf Klima-Konferenzen. Nur klafft zwischen Wissen und Handeln eine immer größere Lücke. Und damit auch zwischen Arm und Reich.
"Klima-Apartheid" nennt der australische Völkerrechtler Philip Alston das Szenario, auf das die Welt zusteuert. Alston ist Sonderberichterstatter der UN für extreme Armut und Menschenrechte. Ende Juni [2019] legte er in einem Report dar, wie die Erderwärmung bereits jetzt die Erfolge der vergangenen 50 Jahre bei der Bekämpfung der Armut aufs Spiel setzt.

Fortschritte bei Bildung, Gesundheit oder Ernährung werden gefährdet, weil immer stärkere Fluten und Stürme Häuser, Schulen, Hospitäler zerstören, immer mehr und längere Dürren Bauern ruinieren. Arme Staaten müssen sich wie Mosambik nach den Zyklon-Stürmen im Frühjahr [2019] mit Krediten neu verschulden. Reiche Länder dagegen haben die Ressourcen, ihre Bürger vor den Folgen der Erderwärmung zu schützen. Das ist der Jetztzustand.

Sollte die Erderwärmung auf "nur" 1,5 Grad begrenzt werden, wären laut Alston rund 500 Millionen Menschen zusätzlich von Wasserknappheit bedroht, 36 Millionen von schlechteren Ernten und rund 4,5 Milliarden von Hitzewellen. Beträgt die globale Erwärmung zwei Grad, drohen weiteren 100 bis 400 Millionen Menschen Hunger und Unterernährung sowie ein bis zwei Milliarden chronischer Wassermangel.

Das sind die harmloseren Szenarios. Denn die Welt steuert derzeit, wie gesagt, auf eine Erwärmung um drei bis vier Grad zu. Weil der Energiebedarf weltweit wächst – auch in ärmeren Ländern. Weil China zu einem Treibhausgas-Giganten geworden ist. Vor allem aber, weil die reichen, westlichen Industriestaaten die beschlossenen Klimaschutz-Vorgaben viel zu langsam umsetzen.
Dieselben Staaten – Deutschland eingeschlossen – sehen sich weiterhin als die einzig legitimen, weil demokratisch regierten Verteidiger der universalen Menschenrechte. Doch was Alston beschreibt, sind fundamentale Verstöße der Reichen gegen existenzielle Rechte der Armen: gegen ihr Recht auf Leben und Würde, auf Gesundheit, Nahrung, sauberes Wasser. Der Politologe Dirk Messner, Institutsleiter an der Universität der Vereinten Nationen in Bonn, hat skizziert, wie die Klimakrise die klassischen Rollen im Menschenrechtsdiskurs vertauschen könnte: Bremsen die demokratischen, wohlhabenden Staaten weiterhin einen effektiven Klimaschutz, landen sie irgendwann auf der Anklagebank – symbolisch, politisch, juristisch. Völkerrechtler werden dann diskutieren, so Messner, "wie sich die Menschheit und die Staatengemeinschaft gegenüber solchen Ländern schützen können, die sich weigern, klimaverträgliche Transformationsprozesse einzuleiten".

[…] Ohne umweltfeindlichen Sojaanbau in Lateinamerika kein billiges Fleisch aus (Massen-)Tierhaltung auf europäischen Tischen; ohne Ausbeutung asiatischer Textilarbeiterinnen keine Billigjeans in deutschen Kaufhäusern – und so weiter. Ökologisch bewussterer Konsum muss daran noch nichts ändern: Für unsere neue Elektromobilität braucht es Batterien mit Kobalt aus dem Kongo, in dessen Bergbau Tausende Kinder arbeiten. Außerdem Schmelzereien in China, was wiederum dessen CO2-Ausstoß erhöht.
Das heißt nicht, dass am Ende alles doch vergeblich ist. Es heißt, dass Klimaschutz ohne den Anspruch globaler und sozialer Gerechtigkeit nicht funktioniert. Es heißt auch, dass wir nicht nur für unser Benzin und Heizöl, sondern auch für unser Fleisch und unsere Batterien weit mehr bezahlen müssen. […]

Andrea Böhm, "Stürme, Fluten, Geld", in: Die ZEIT Nr. 29 vom 11. Juli 2019

QuellentextDie Frage der historischen Schuld

Streitpunkt: Die "historische Schuld"
Damit das Pariser Klimaabkommen in Kraft treten konnte, musste es nicht nur unterzeichnet, sondern auch ratifiziert werden, was in der Regel durch Staatsoberhaupt, Regierungschef oder Außenminister geschieht. In Demokratien braucht es dazu einen Parlamentsbeschluss. Damit aus den "Accord de Paris" ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag wurde, mussten mindestens 55 Länder, die mindestens 55 Prozent der Weltemission verursachen, ihre Ratifizierungsurkunden hinterlegen. Die Schwelle war am 5. Oktober 2016 überschritten, als die EU, Kanada und Nepal ratifizierten: 71 Staaten, 57 Prozent der Weltemission.

Acht von 197 Staaten haben noch nicht ratifiziert: Iran (1,7 Prozent der Weltemission, Stand 2015), Türkei (1,04), Irak (0,5), Angola (0,16), Libyen (0,14), Eritrea (0,01), Sudan/Südsudan (0,24), Jemen (0,07). In Summe: 3,86 Prozent der Weltemission. Vier dieser Länder – Angola, Irak, Iran, Libyen – zählen zur Opec, der Organisation erdölexportierender Länder. [Mit Stand 2021 fehlen nur noch sieben Länder, Angola ist beigetreten – Anm. d. Red.]

Der von Donald Trump am 1. Juni 2017 verkündete Austritt der USA (13,12 Prozent der Weltemission) aus dem Abkommen wurde am 4. November 2020 rechtswirksam. [ Unter der Präsidentschaft Joe Bidens sind die USA im Februar 2021 dem Abkommen wieder beigetreten – Anm. d. R.]
Die Darstellung der CO2-Emissionen nach Ländern und deren Anteilen sorgt stets für Kritik. Danach führt China (26,61 Prozent) vor den USA (13,12) und Indien (6,81). Es folgen Russland (4,55), Japan (2,77), Brasilien (2,5), Deutschland (1,89) und Indonesien (1,83). Gerechter, so die Kritiker, sei die Darstellung der Emission pro Kopf. Hier (Stand 2018) führt Katar mit 58 Tonnen pro Einwohner, gefolgt etwa von Australien (16,8), USA (16,1), Südkorea (13,6), Russland (12,1), Niederlande (9,5), Deutschland (9,2), China (7,95), Großbritannien (5,6) und Indien (1,7). Letzter Platz: Ruanda (null Tonnen).

Ein Ranking nach der "historischen CO2-Schuld", das 170 Jahre Treibhausgas-Vergangenheit aufarbeitet, ist ein regelmäßiger Streitpunkt bei Klimagipfeln. Eine in den "Environmental Research Letters" veröffentlichte Studie der Concordia University (Kanada) führt hier auf Pro-Kopf-Basis Großbritannien, wo die industrielle Revolution begann, weit vor den USA. Es folgen Kanada, Russland, Deutschland, die Niederlande und Australien. Fazit der Studie: Nur 20 von 197 Staaten haben 82 Prozent des Temperaturanstiegs verursacht.

Wolfgang Wiedlich, "Viele Ratifizierungsurkunden, aber nur schwache Taten", in: General-Anzeiger Bonn vom 19. Dezember 2020

Im Pariser Klimaabkommen ist allerdings nur das 2°C-Ziel völkerrechtlich verbindlich. Die Staaten konnten sich in den Verhandlungen nicht auf das anspruchsvollere Ziel von 1,5 Grad einigen, da dies deutlich stärkere Anstrengungen verlangen würde als die Begrenzung auf 2°C. Und so bleibt das 1,5°C-Ziel vage und nur richtunggebend, aber dennoch Bestandteil des Vertrags.

Außerdem enthält das Pariser Klimaabkommen ein langfristiges Ziel. Es geht darum, den Scheitelpunkt des Treibhausgasausstoßes so schnell wie möglich zu erreichen, um in der zweiten Jahrhunderthälfte möglichst zu Netto Null-Emissionen zu gelangen. Die sogenannte Klimaneutralität bedeutet, dass nicht mehr klimaschädliche Gase ausgestoßen werden als von der Natur durch sogenannte Senken, wie beispielsweise Wälder oder Ozeane, wieder aufgenommen werden können. Es bezeichnet also den Zustand, in dem zwischen dem Ausstoß und der Aufnahme von Klimagasen ein Gleichgewicht herrscht.

QuellentextKontroverse um Negativemissionen

CO2-Neutralität steht in der Kritik, da sie Zustände umschreibt, die mit Hilfe von sogenannten Negativemissionen auch ohne tiefgreifende Treibhausgasminderungen zu erreichen sind. Negativemissionen entstehen durch Kohlenstoffsenken, die die CO2-Aufnahmekapazität vergrößern (z. B. die Renaturierung von Mooren oder Wiederaufforstungsprojekte), durch die CO2-Abscheidung und Speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) oder gar durch die aktive Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre (z. B. durch Technologien des Climate-Engineering oder Geoengineering).

In der Tat rechnen die Modelle zur Erreichung der Pariser Klimaziele auch solche Technologien wie CCS oder Kohlenstoffsenken mit ein. Die Verwendung von Negative-Emissionen-Technologien wirft allerdings erhebliche moralische, regulatorische und finanzielle Fragen auf. Kritische Stimmen äußern Bedenken, dass so keine nachhaltigen Verhaltensänderungen entstehen, die notwendig sind, um den globalen Temperaturanstieg deutlich unter 2°C zu halten. Für Kohlenstoffsenken Wälder oder Moore muss Platz geschaffen werden, der für andere Landnutzungsmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung steht. Das kann auch auf Widerstand aus der Landwirtschaft stoßen. Die Lagerung von CO2 unter der Erde wiederum verlagert das Problem auf spätere Generationen und spezielle Gegenden. Die meisten Negative-Emissionen-Technologien sind außerdem sehr teuer und bisher nicht rentabel. Auch sind viele Sicherheitsrisiken noch nicht geklärt.

Zusätzlich zu den Temperatur-Zielen wurde die Anpassung an den Klimawandel als weiteres Ziel in das Pariser Abkommen aufgenommen. Widerstandsfähigkeit und der Umgang mit den Folgen des Klimawandels sind somit deutlich wichtiger geworden.
Im Herzstück des Abkommens haben sich zum ersten Mal nicht nur die Industrieländer, sondern auch die Länder des Globalen Südens darauf geeinigt, ihre Emissionen zu senken. Sie haben sogenannte nationale Beiträge vorgelegt (Nationally Determined Contributions, NDCs), in denen sie angeben, wie viel und auf welche Weise sie ihre Treibhausgase reduzieren wollen. Beispielsweise hat die EU für all ihre Mitgliedstaaten eine gemeinsame NDC vorgelegt. Diese sieht ein Ziel von 40 Prozent (bis 2030, gegenüber 1990) vor, das wiederum auf die EU-Mitgliedstaaten aufgeteilt wird.

Ein Ambitionsmechanismus legt fest, dass die Länder alle fünf Jahre ihre NDCs überprüfen und nachbessern sollen. Nach der ersten NDC-Abgabe zur Verabschiedung des Abkommens 2015 findet die erste Updating-Runde demnach bereits 2020/2021 statt. Die EU hat Ende 2020 eine neue NDC vorgelegt, die beispielsweise auch eine Verstärkung ihres Minderungsziels beinhaltet. Alle fünf Jahre findet außerdem eine globale Bestandsaufnahme (Global Stocktake) statt, in der geschaut wird, was von den Ländern versprochen und was tatsächlich erreicht wurde. Einen ersten Ansatz dazu machte hier 2018 der "Talanoa-Dialog", eine erste Bestandsaufnahme, um herauszufinden. wo die Länder hinsichtlich ihrer Klimaschutzbemühungen stehen. Das erste richtige Global Stocktake wird im Jahr 2023 erwartet.

Transparenz soll hergestellt werden, indem die Länder sich gegenseitig und der Öffentlichkeit gegenüber Bericht über die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen erstatten. Die systematische Transparenz- und Rechenschaftspflicht ist deshalb auch der Kontrollmechanismus des Pariser Abkommens.

Ein neuer wichtiger Punkt wurde besonders von der Gruppe der kleinen Inselstaaten und den am wenigsten entwickelten Ländern vorangebracht: das Thema der Verluste und Schäden, die gerade ihnen durch den Klimawandel jetzt schon bzw. zukünftig entstehen. Hier wollen die Staaten vor allem stärker zusammenarbeiten, ein gemeinsames Risikomanagement und Lösungsvorschläge erarbeiten. Eine Einigung auf Verantwortlichkeiten, die die Industrieländer als Hauptverursacher der Klimaschäden stärker in die Pflicht genommen hätte, konnte jedoch nicht erreicht werden und so gibt es keine Möglichkeit, eine Kompensation oder Haftung für Folgen des Klimawandels unter dem Vertrag zu fordern. Damit bleibt das Abkommen weit hinter dem zurück, was sich viele Länder des Globalen Südens erhofft haben.

Eines der strittigsten Themen, die Finanzierung des Klimaschutzes, nennt das Pariser Abkommen als weiteres Ziel. Finanzströme sollen generell mit Entwicklungspfaden hin zu einer klimafreundlichen und -anpassungsfähigen Welt in Einklang stehen. Konkret werden jedoch vor allem bereits bestehende Zusagen der Industrieländer aus dem Jahr 2009 beibehalten und bis 2025 verlängert. Sie wollen jährlich 100 Milliarden US-Dollar für die Klimafinanzierung geben. Die Gelder werden in einen Klimaschutzfonds eingespeist. Sie sind sowohl für die Bekämpfung des Klimawandels als auch für Anpassungsmaßnahmen bestimmt. Bisher haben sich jedoch noch nicht genug Geldgeber zusammengefunden, um die Versprechen zu halten.

Ökonomische Instrumente, das heißt Mechanismen, die Emissionszertifikate benutzen, spielen weiterhin eine wichtige Rolle. Auch das Pariser Abkommen erlaubt den Transfer oder Austausch von Emissionsminderungsverpflichtungen unter den Staaten. Außerdem soll es wieder einen Mechanismus geben, in dem, ähnlich wie beim CDM unter dem Kyoto-Protokoll, Emissionszertifikate generiert und von den Ländern für ihre nationalen Klimapläne genutzt werden können. Bisher sind die genauen Regeln für diese Werkzeuge jedoch nicht endgültig abgestimmt. Die Staaten streiten auch fünf Jahre nach Vertragsabschluss noch darüber, wie Emissionszertifikate angerechnet und kontrolliert werden müssen, damit sie nicht etwa in zwei Ländern gleichzeitig angerechnet werden können.

Grundsätzlich beruht das Pariser Abkommen auf einem sehr viel breiteren und umfassenderen Ansatz als sein Vorgänger von Kyoto. Das äußert sich auch darin, dass weitere wichtige Akteurinnen und Akteure und Aspekte für den Klimaschutz anerkannt werden; beispielsweise Städte, Regionen, lokale Behörden, die indigene Bevölkerung und Frauen. Auch Gender- aspekte werden berücksichtigt.

Das Pariser Abkommen ist eng mit der Agenda 2030 verknüpft, die die globalen Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen festgelegt hat (Sustainable Development Goals, SDGs) und ebenfalls im Jahr 2015 beschlossen wurde. An vielen Stellen zeigt das Abkommen, dass Klimaschutz nicht nur in der Minderung von Treibhausgasen besteht, sondern ganzheitlich gedacht werden muss. Er darf nicht auf Kosten sozialer Aspekte, wie zum Beispiel Armut oder Ernährungssicherheit, geschehen und muss faire Chancen auf Entwicklung für Länder des Globalen Südens bieten. Fachleute argumentieren jedoch, dass diese Nachhaltigkeitsaspekte, die SDGs, noch stärker in den nationalen Beiträgen berücksichtig werden könnten.

Das Abkommen stellt einen Spagat zwischen den vielen unterschiedlichen Bedürfnissen her. Einerseits versucht es den unterschiedlichen Bedürfnissen von Industrieländern und Entwicklungsländern gerecht zu werden, indem jedes Land seinen eigenen Beitrag festlegen darf. Auf diese Weise nimmt es alle in die Pflicht, etwas für den Klimaschutz zu tun, erlaubt aber jedem, das zu tun, was er für angemessen hält. Andererseits legt es von zentraler Stelle ein Mindestziel für alle fest, welches auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut.

QuellentextKlimaschutz – ein Fall für die Justiz?

[…] Linus [Steinmetz] ist 16 Jahre alt und Schüler in Göttingen. Yi Yi ist 35, Anwältin und wohnt in Bandarban im Südosten Bangladeschs. Sie sprechen verschiedene Sprachen, haben sehr unterschiedliche Träume, und doch vereint sie seit [Januar 2020] […] ein gemeinsamer Gegner: die Bundesregierung. Gegen sie haben beide Verfassungsbeschwerde eingereicht, mit dem gleichen Argument: Deutschland tue nicht genug für den Klimaschutz. Dadurch werde ihr Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt. Und deswegen soll das Gericht einschreiten.

[…] Nicht nur in Deutschland, weltweit bemühen Umweltaktivisten immer häufiger die Gerichte, um Regierungen und Unternehmen zu mehr Klimaschutz zu zwingen. Etwa 1300 solcher Klimaklagen gibt es bereits. Carroll Muffett, Direktor des Washingtoner Center for International Environmental Law, nimmt an, dass 20 bis 30 von ihnen weitreichende Folgen haben könnten. Etwa wenn die verklagten Regierungen oder Unternehmen verlieren und damit gezwungen sein könnten, mehr Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen. Oder weil der Fall für öffentliche Diskussionen sorgt und deshalb große politische Wirkung entfalten könnte.
Aber sind Umweltklagen ein legitimes Instrument der politischen Einflussnahme? Oder ein Versuch, durch die Hintertür Maßnahmen zu erzwingen, für die es politisch keine Mehrheiten gibt?

Anschauungsmaterial liefern die Niederlande. Kurz vor Weihnachten verurteilte das oberste niederländische Gericht die dortige Regierung dazu, mehr und schneller Treibhausgase einzusparen als ursprünglich geplant. Der Staat habe "rechtswidrig gehandelt" und "zu wenig getan, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern", befand das Gericht. Schließlich herrsche in der Wissenschaft und in der internationalen Gemeinschaft ein "großer Konsens", dass die Emissionen von Treibhausgasen in den Industrienationen dringend sinken müssen. Bis Ende 2020 müssen die Niederlande nun den Ausstoß von Treibhausgasen verglichen mit dem Jahr 1990 um 25 Prozent reduzieren. Geplant war ein Minus von 23 Prozent; ein Unterschied von zwei Prozentpunkten, der gering zu sein scheint, aber in Wahrheit bedeutsam ist und dazu führen könnte, dass einige Kohlekraftwerke früher abgeschaltet werden müssen.
Das Urteil ist ein Erfolg der Umweltorganisation Urgenda. Die war bereits im Jahr 2013 mit fast 900 privaten Klägern vor Gericht gezogen und hat nun in letzter Instanz gewonnen.

Überall auf der Welt werden derzeit ähnliche Prozesse angestrengt, und zwar von ganz unterschiedlichen Akteuren. Auf den Philippinen hatte die in der Verfassung verankerte Menschenrechtskommission in monatelangen Anhörungen zahlreiche Gesundheitsexperten, Klimawissenschaftler und Juristen vernommen. Schließlich empfahl sie, dass Gerichte die Klagen von Bürgern gegen 47 große Energieunternehmen zulassen sollten, weil deren Emissionen von Treibhausgasen Menschenrechte verletzen. In der Schweiz hat eine Aktivistengruppe, die sich "KlimaSeniorinnen" nennt, eine Beschwerde beim dortigen Bundesgericht eingereicht, weil die Erhitzung des Klimas ihre Gesundheit gefährde und der Staat nicht genug dagegen unternehme.

Im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts hat die Generalstaatsanwältin Maura Healey Anklage gegen den Energiekonzern Exxon erhoben, weil das Unternehmen die Rechte der Verbraucher und Investoren verletze. Die Konzernführung habe Studien verschwiegen, wonach sich der Klimawandel negativ auf ihr Geschäft auswirken werde. Und vor dem Europäischen Gerichtshof klagen in zweiter Instanz 36 Bürger gegen die EU, weil deren Klimarichtlinien nicht streng genug seien.

[…] Bisher setzten […] [deutsche Umweltgruppen] eher auf Demonstrationen und Kampagnen. Oder auf die Mitarbeit in der Kohlekommission, in der Wirtschaft, Gewerkschaften und Umweltschützer einvernehmlich nach einem Ausstiegsplan aus der Kohleverbrennung gesucht hatten. Doch inzwischen ist die Hoffnung der Enttäuschung gewichen. […]

"Wir haben fast nichts erreicht", sagt Linus Steinmetz. Ein Jahr lang stand er fast jeden Freitag auf der Straße. Er hat Unterricht verpasst, Demonstrationen organisiert und mit Politikern und Unternehmern diskutiert. Inzwischen zweifelt er daran, dass die regierenden Politiker seine Interessen wahren, und setzt seine Hoffnung in die Gerichte: "Meiner Generation und den Menschen aus dem globalen Süden wird das meiste Unrecht angetan. Die Justiz kann für Gerechtigkeit sorgen", sagt er.

Den Umweltverbänden kommt das gelegen. Sie suchen nach neuen Hebeln, um den Klimaschutz voranzubringen. Und so haben sich für die Beschwerden beim Verfassungsgericht Greenpeace, die Deutsche Umwelthilfe, Germanwatch, der BUND, Luisa Neubauer, Linus und andere Aktivisten der Bewegung Fridays for Future, die Anwältin Yi Yi und neun vom Klimawandel betroffene Bürger von Bangladesch zusammengetan. […]

Unter Juristen ist das umstritten. "Da werden Erwartungen geweckt, die ein Gericht gar nicht erfüllen kann", warnt Bernhard Wegener, der an der Universität Erlangen-Nürnberg Öffentliches Recht lehrt. […] Wenn jemand seine verfassungsmäßig garantierten Grundrechte verletzt sehe, müsse er das schon sehr konkret nachweisen können, sagt Wegener. Das Verfassungsgericht lasse der Politik bewusst einen großen Spielraum, um zu entscheiden, wie diese Rechte zu schützen seien.

[…] Für Juristen wie Wegener geht es also letztlich auch ums Prinzip. Denn selbst wenn die Richter eine Entscheidung treffen würden, die den Klimaaktivisten entgegenkäme, wären damit die Diskussionen ja nicht beendet. Die Bürger könnten sich dann fragen, woher das Gericht die Legitimität nimmt, stärker als die Regierung mit dem Klimaschutz in ihr Leben einzugreifen. […]
[…] In Deutschland wurde während des Dieselskandals zum ersten Mal in großem Stil erfolgreich strategisch geklagt, vor allem von der Deutschen Umwelthilfe. Sie zog gegen die Luftverschmutzung vor die Gerichte und dagegen, dass der Staat die Gesetze nicht durchsetzt. Das Ergebnis: Die beklagten Städte mussten hier und da Fahrverbote beschließen, schaffen nun saubere Busse an und planen mehr Radwege. Die Umwelthilfe wurde aber zugleich heftig dafür kritisiert, dass sie das vor Gericht erzwang. […]

Petra Pinzler, "Im Namen des Klimas", in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 16. Januar 2020
Im März 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Klägern teilweise Recht gegeben. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, ihr Klimaschutzgesetz nachzubessern, die Klagen der Verbände wurden abgewiesen, da sie nicht klagebefugt seien.
Externer Link: www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-031.html

Kritik am Pariser Abkommen

Karikatur: Klimaschutz (© Gerhard Mester)

Obwohl als Meilenstein gepriesen, erfährt das Pariser Abkommen breitgefächerte Kritik. Grundsätzlich ist die Natur des Abkommens umstritten. Seine Mischung aus verbindlichen und unverbindlichen Elementen ist komplex und enthält durchaus Widersprüche. Während das übergeordnete 2°C-Ziel verbindlich ist, ist der Weg dorthin sehr offen geregelt. Viele Expertinnen und Experten argumentieren, dass dadurch, dass jedes Land über seinen Beitrag allein entscheidet, ein Anreiz für Länder entsteht, so wenig wie möglich zu tun.

Eine weitere Problematik ist leicht nachvollziehbar: Jedes Land hat eine eigene Vorstellung davon, was es an Klimaschutz bzw. wie und wann es ihn betreiben will. Und dementsprechend sehen auch ihre NDCs aus: Sie enthalten unterschiedliche Startdaten, Deadlines, Sektoren und Ziele. Auf diese Weise ist es sehr schwierig, sie untereinander zu vergleichen oder aber zu bewerten, was damit insgesamt für ein Fortschritt erzielt werden kann. Diese Situation führte auch dazu, dass, nachdem das Abkommen einmal beschlossen war, die Verhandlungen über das eigentliche Regelwerk lange dauerten. Selbst im Jahr 2020, nach dem das Abkommen eigentlich beginnen sollte, waren nicht alle Regeln klar.

Außerdem ist es schwierig, die Einhaltung des Vertrags zu überprüfen. Das liegt zum einen an dem für völkerrechtliche Abkommen typischen Problem, dass es keine gerichtliche Instanz gibt, die gegen Verstöße vorgehen kann. Zum anderen liegt das an der oben beschriebenen schwierigen Verbindlichkeit des Pariser Abkommens. Die Kontrolle des Vertrags beruht auf einer Art "Schmach und Schande"- Idee. Der Transparenz- und Berichts-Mechanismus soll allen Ländern vor Augen führen, wo sie stehen. Wenn sie ihre Versprechungen nicht erfüllen, droht ihnen der Imageverlust vor der internationalen Gemeinschaft. Dieses Druckmittel wird zu Recht als sehr schwach bezeichnet. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass vielen Ländern vorgehalten wird, sich Ziele gesteckt zu haben, die sie ohne extra Anstrengungen- erreichen können.

Der schwerwiegendste Punkt ist jedoch, und das wurde bereits kurz nach Beschluss des Abkommens klar, dass das, was die Länder bisher in ihren NDCs versprechen, nicht ausreicht, um das 2°C-Ziel – und noch viel weniger das 1,5°C-Ziel – zu erreichen. Zwar sind manche neuen Studien etwas positiver, sie rechnen die Ankündigungen einiger Industrieländer zur Klimaneutralität mit ein, aber auch der aktuelle Emission Gap Report von UNEP 2020 stellt fest, dass sich die Welt mit den derzeitigen NDCs auf mindestens 3°C wärmere Lebensbedingungen hinbewegt. Die Hoffnung liegt nun auf den Nachbesserungen der nationalen Beiträge mittels der regelmäßigen Updates und neuer Erkenntnisse in den Bestandsaufnahmen.

Schließlich hatten auch die Versuche großer Treibhausgasverursacher, aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen, eine große Bedeutung. Unter der Präsidentschaft Donald Trumps traten die USA aus dem Abkommen aus. Daraufhin erwogen weitere Staaten, wie etwa Brasilien, ebenfalls einen Austritt. Solche Vorhaben bedrohen nicht nur die Erreichung der Gesamtziele, sondern sind auch von symbolischer Bedeutung, da sie den Glauben aller Länder an die gemeinsame Sache riskieren. Aus diesem Grund gibt auch besonders der umgehende Wiedereintritt der USA unter der Regierung Joe Bidens ein positives Signal.

Die Entwicklung der beiden internationalen Klimaabkommen von Kyoto und Paris zeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht unbedingt mit politischem Handeln einhergehen. Sie zeigt aber auch, dass mit dem Erkenntnisgewinn steigende Komplexität einhergeht, das heißt mehr Themen, Akteure und Bedürfnisse, die es immer schwieriger machen, sich auf eine gemeinsame Sache zu einigen und eine Kompromisslösung zu finden. Klimaschutz geht über "Klima" hinaus und ist schließlich auch ein Teil des Umweltschutzes, vor allem aber ein Nachhaltigkeitsthema.

Klimapolitik in Deutschland und der EU

Charlotte Unger
Bereits in den 1970er-Jahren gewann das Thema Klimawandel in Deutschland wie in der gesamten EU an Aufmerksamkeit. Es kam jedoch erst in den späten 1980er- und den 1990er-Jahren richtig in der Politik an. Die deutsche und europäische Klimapolitik war von Beginn an stark mit den internationalen Entwicklungen verknüpft. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 wurden die Kompetenzen der EU auf Umwelt und damit Klimaschutz erweitert. Auf der ersten Konferenz des Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) 1995 in Berlin machten sich Deutschland und die EU für das "2°C-Ziel" stark. Die EU spielte auch eine treibende Kraft bei der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls 1997.

Ein erstes festes Klimaziel verkündete Deutschland dann zur Jahrtausendwende 1999/2000 auf der UNFCCC-Konferenz in Bonn: die Senkung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent gegenüber 1990 bis zum Jahr 2005. Das Ziel wurde in einem Nationalen Klimaschutzprogramm verankert. Die EU trat als Gemeinschaft bei den internationalen Klimaverhandlungen auf und legte sich auf einen gemeinsamen EU-Klimaschutzbeitrag fest. Sie versprach 8 Prozent ihrer Treibhausgase im Zeitraum 2008–2012 (gegenüber 1990) zu reduzieren. Dieses Ziel wurde in der EU unter den Mitgliedstaaten aufgeteilt, und je nach Größe, Wohlstand und Kapazitäten musste jedes EU-Land einen unterschiedlichen Anteil erbringen. Die Minderungen mussten von den EU-Ländern durch eigene Instrumente umgesetzt werden.

Deutschland schrieb beispielsweise sein Nationales Klimaschutzprogramm fort und setzte sich im Jahr 2007 das neue Ziel, seine Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent (im Vergleich zu 1990) zu reduzieren. Aber bereits in dieser Zeit zeigte sich, dass ehrgeizige Zielsetzungen nicht unbedingt ausreichende Emissionsminderungen nach sich zogen. Deutschland verfehlte sein erstes Ziel für 2005 und konnte auch sein Ziel für 2020 nur knapp, nach einem Coronavirus-Pandemie-bedingten Rückgang der Emissionen, erreichen. Nach der wenig erfolgreichen zweiten Verpflichtungsperiode des Kyoto-Protokolls hat sich die EU im Pariser Abkommen 2015 zu neuen Zielen verpflichtet. Ihr "nationaler" Beitrag (Nationally Determined Contributon, NDC) enthielt unter anderem das Ziel, bis 2030 die Treibhausgase um 40 Prozent (in Vergleich zu 1990) zu senken, die aktualisierte Fassung steigert die Anforderung nun auf 55 Prozent. Auch dieses Ziel teilen sich die Mitgliedstaaten.

Die EU und ihre Klimapolitik – ein starker Akteur

Durch ihr starkes Auftreten in der Klimapolitik wird deutlich, dass die EU in diesem Politikfeld weltweit eine zentrale Rolle einnimmt. Das hat sich über die Jahre noch verstärkt. Zwar spielen auch die einzelnen Rechtsprechungen in den Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle, aber die EU hat die Gesetzgebungsinitiative. Sie gibt den klimapolitischen Rahmen vor, indem sie Direktiven, Pläne, Roadmaps und andere Instrumente erstellt. Richtungsweisend sind derzeit auf kurze Frist das 2020 beschlossene Klima- und Energiepaket auf mittlere Frist der Klima- und energiepolitische Rahmen bis 2030 und schließlich die 2050-Langfrist-Strategie.

In der EU ist die "Generaldirektion (GD) Klima" als Teil der EU-Kommission für die Klimapolitik hauptverantwortlich, auch wenn andere Generaldirektionen, wie beispielsweise die GD Energie, die GD Umwelt oder auch die GD Wettbewerb, an vielen politischen Maßnahmen mitwirken. In Deutschland ist vor allem das Bundesumweltministerium (BMU) zuständig, aber auch andere Ministerien, wie beispielsweise das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) oder das Bundesforschungsministerium (BMBF), sind beteiligt. Seit Ende 2019 haben zudem alle Ressorts die Aufgabe, Klimaziele in ihren Bereichen umzusetzen.

QuellentextDer Europäische Emissionshandel

  • Seit 2005 ist der europäische Emissionshandel (European Union Emissions Trading System, EU ETS) das zentrale Klimaschutzinstrument der EU. Der EU ETS reguliert nicht alle Emissionen, sondern nur solche aus Energieproduktion, Industrie und Luftfahrt und damit rund 45 Prozent der EU-Gesamtemissionen.

  • Im EU ETS entsteht ein CO2-Preis pro Tonne Treibhausgase. Damit soll erreicht werden, dass die Unternehmen für das Verschmutzen der Atmosphäre etwas bezahlen. Sie müssen für die Menge an Treibhausgasen, die sie ausstoßen, Emissionszertifikate kaufen (Unternehmen, die besonderem Wettbewerbsdruck unterliegen, erhalten sie umsonst).

  • Das heißt, je weniger ein Unternehmen ausstößt, desto weniger Zertifikate muss es kaufen bzw. kann überschüssige Zertifikate auf dem sogenannten CO2-Markt weiterhandeln. Wenn jedoch viele Unternehmen einen hohen Bedarf haben und die Zertifikate auf dem Markt knapp werden, steigt ihr Preis.

  • Bei einem hohen CO2-Preis haben die Unternehmen einen stärkeren Anreiz, Treibhausgase in ihren Produktionsprozessen zu senken, und benötigen so weniger Zertifikate. Der Reiz des Ganzen ist jedoch, dass die Regierungen – in Abhängigkeit von ihren Klimaschutzzielen – die Obergrenze an Zertifikaten, die es auf dem Markt geben darf, bestimmen. Sie können also selbst für Zertifikatsknappheit und einen hohen CO2-Preis sorgen.

  • Über lange Zeit waren die Zertifikate in der EU sehr preiswert. Aus diesem Grund gab es für die Unternehmen wenig Anreize, aktiv ihre Treibhausgasbilanz zu verbessern. Es war immer billiger, Zertifikate zu kaufen. Das lag vor allem daran, dass die Regeln des EU ETS nicht sehr streng waren und es viele Schlupflöcher gab. Diese entstanden, weil sich die EU-Staaten bereits zu Beginn des EU ETS nur schwer einigen konnten, aber auch aus Rücksicht auf die Industrie (z.B. in Deutschland), die sich gegen strengere Regeln und höhere Kosten wehrt. Viele Unternehmen drohen damit, ihre Geschäfte ins Ausland zu verlagern. In diesem Fall würden sich die Emissionen nur an andere Orte weltweit – mit günstigeren Konditionen – verlagern (Carbon leakage). Der EU ETS bietet deshalb besonders entgegenkommende Regeln für "Carbon leakage-gefährdete" Unternehmen.

  • Der EU ETS spiegelt die Schwierigkeit wider, ein anspruchsvolles, bereichsübergreifendes Instrument zu erstellen, das gleichzeitig den Wirtschafts- und Klimaschutzinteressen wie auch den völlig unterschiedlichen Strukturen der EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel in der Energiewirtschaft, gerecht wird.

  • In den letzten Jahren hat die EU versucht, den EU ETS erheblich zu verbessern und seine Regeln verschärft. Der CO2-Preis ist inzwischen sehr viel höher und lag im Frühjahr 2021 bei etwa 43 Euro je Tonne Treibhausgas. Von dem höheren Preis wird erhofft, dass die Unternehmen nun beginnen, in kohlenstoffärmere Prozesse zu investieren. Anderseits haben die Erfahrungen mit dem Emissionshandel auch gezeigt, dass ein Politik-Mix wirkungsvoller ist und in vielen Bereichen auf zusätzliche Instrumente gesetzt werden muss. Auch einige EU-Mitgliedstaaten setzen auf Ergänzungen zum EU ETS. Deutschland hat beispielsweise eine extra CO2-Abgabe für Brennstoffe zum Heizen und für Kraftstoffe im Verkehr beschlossen.

Klimapolitik ist ein sehr komplexer Prozess, in dem es zum Zusammenspiel, aber auch zu Konflikten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten kommt. Zwar ist das eigentliche politische Verfahren gesetzlich geregelt. Die EU-Kommission macht Vorschläge, es finden Abstimmungsprozesse mit den anderen EU-Organen und ein gut geregeltes Konsultationsverfahren mit den Mitgliedstaaten statt. Es gibt jedoch auch viele informelle Absprachen, während derer Themen vorabgestimmt und Weichen gestellt werden.

Deutschland hat als großes und finanzstarkes EU-Land eine wichtige Rolle und oft auch eine Veto-Position. Einerseits können Deutschlands Vorstöße – so etwa die Auftritte der Kanzlerin bei den UN–Gipfeln – eine positive Signalwirkung erzielen. Anderseits lassen sich auch viele Beispiele nennen, bei denen Deutschland die EU-Klimapolitik eher gebremst hat; beispielsweise als es darum ging, ob der Emissionshandel freiwillig oder bindend eingeführt werden sollte oder ob CO2-Grenzwerte für die Automobilindustrie beschlossen werden sollten.
Häufig entstehen die Schwierigkeiten auf innenpolitischer Ebene. In Deutschland kommt es beispielsweise zu Abstimmungskonflikten zwischen den Ministerien für Umwelt, Wirtschaft und Landwirtschaft oder aber zum Widerstand von Interessengruppen aus der Industrie, die damit drohen, bei steigenden Kosten für den Klimaschutz Arbeitsplätze zu streichen.

Der Green Deal

Der europäische Green Deal (© © Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 755 001)

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass auch in der EU die Klimapolitik noch erheblichen Verbesserungsbedarf hat. Die EU legte deshalb Ende 2019 eine neue Strategie vor. Der sogenannte Green Deal soll vor allem Klimaschutz, aber auch Themen wie Gesundheit, Umwelt und Nachhaltigkeit stärken.

Unter anderem sieht der Green Deal vor, ein bindendes Klimagesetz zu verabschieden. Außerdem schlägt die EU-Kommission vor, das Treibhausgasminderungsziel von derzeit 40 auf 55 Prozent anzuheben und die Klimaneutralität bis 2050 festzuschreiben. Der Green Deal versteht sich als übergreifendes Instrument, das einzelne Wirtschaftssektoren, wie Energie, Gebäude, Verkehr und Landwirtschaft, betrifft, aber auch bestimmte Themenfelder, wie beispielsweise den Ausstoß des Treibhausgases Methan, in den Schwerpunkt nimmt. Mit einem Mix aus konkreten EU-Instrumenten und von den Mitgliedsländern zu erbringenden Anstrengungen sollen die Herausforderungen gemeistert werden. Seitens der EU gehören dazu finanzielle Förderungen wie etwa der EU-Just Transition Fund; ein Mechanismus, der sicherstellen soll, dass der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft fair verläuft.

Mit dem Green Deal setzt die EU auf eine Mischung aus Vorgaben und Flexibilität, das heißt auch Eigeninitiativen aus der Wirtschaft. Häufig ist es einfacher, sich unter den vielen Mitgliedstaaten auf solche Pakete zu einigen. Der breite, multidimensionale Ansatz signalisiert außerdem, dass eine Wende hin zu einer kohlenstoffarmen Lebensweise auf allen Ebenen und in allen Bereichen stattfinden muss.

Im Energiesektor liegt beispielsweise der Schwerpunkt auf Energieeffizienz; hier gibt es bereits ein separates Ziel von 32,5 Prozent (des Primärenergieverbrauchs bis 2030). Auch soll die Energieproduktion zukünftig weitgehend auf erneuerbaren Energien basieren. Dazu gehört ein Ausbau des Leitungsnetzes für erneuerbare Energien und eine volle Ausschöpfung der Offshore-Windkraft. Ein anderer Aspekt ist die Verbesserung der Energie- und Ökolabels, beispielsweise zur Anzeige des Energieverbrauchs oder des Recyclinganteils eines Produktes.

Ein weiterer Schlüsselsektor des Green Deals ist der Gebäudebereich. Er gilt als einer der größten Treibhausgasverursacher in der EU, weil zum Beispiel Heizung und Warmwasser häufig mit fossilen Brennstoffen erzeugt werden. Sein Umbau hat sich jedoch als besonders schwierig herausgestellt. Die EU möchte hier die jährliche Rate an sanierten Gebäuden verdoppeln. Dafür müssen die EU-Mitgliedstaaten eine langfristige Gebäudesanierungsstrategie vorlegen und für die Zeit von 2021 bis 2030 nationale Energie- und Klimapläne vorbereiten. Durch die Summe der Maßnahmen aller Länder soll die EU ihre Ziele erreichen.

Im Verkehr will die EU ihre Treibhausgase um 90 Prozent bis 2050 reduzieren. Hier setzt man vor allem auf alternative Brennstoffe, wie den erneuerbaren Wasserstoff, oder den Ausbau der Ladestationen für Elektroautos und die Stärkung des Schienenverkehrs. Auch diskutiert die Politik die Ausweitung des Emissionshandels und hier über strengere Regeln für die Luftfahrt. Im Landwirtschaftsbereich will die EU das Ziel erreichen, dass 25 Prozent der Flächen durch Biolandbau betrieben werden.

Gegen Ende des Jahres 2020 ist der Green Deal jedoch nur eine Strategie, und seine konkrete Ausgestaltung, zum Beispiel die Höhe der Treibhausgasminderungsziele, muss noch abgestimmt werden. Da sich aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten über seinen Inhalt einig sind, ist noch unklar, wann das EU-Klimagesetz verabschiedet wird.

Das erste deutsche Klimaschutzgesetz

Die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr stehen auch in Deutschland im Fokus des Klimaschutzes. Im Dezember 2019 hat Deutschland zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Klimaschutzgesetz verabschiedet und hierzu ein neues Klimaschutzprogramm vereinbart. Es verankerte die Treibhausgasneutralität bis 2050 und zunächst ein Minderungsziel von 55 Prozent bis 2030. Dieses wurde jedoch bereits im Jahr 2021 auf 65 Prozent erhöht.

Besonders interessant an dem Gesetz ist, dass nun jedes Politikressort eine eigene Verantwortung mit eigenen Zielen erhält. Nun müssen beispielsweise auch die Ministerien für Verkehr oder Landwirtschaft dafür sorgen, dass sie ihre Klimaziele einhalten, sie sehen sich also stärker in die Pflicht genommen. Eine weitere wichtige Maßnahme ist eine zusätzliche Abgabe auf fossile Brennstoffe wie Heizöl, Gas, Benzin und Diesel. Ab dem Jahr 2021 sind 25 Euro pro Tonne Treibhausgas fällig, mit einer jährlich steigenden Rate. Es wird damit gerechnet, dass etwa durch die Verteuerung des Benzins an der Tankstelle (ca. 7 Cent pro Liter) ein Anreiz geschaffen wird, weniger Auto zu fahren. Dieser Schritt ist auch daher wichtig, weil das Heizen von Gebäuden und der Verkehr vom EU-Emissionshandel ausgenommen sind.

Das Programm versucht außerdem, einen Gerechtigkeitsaspekt mit einzuschließen. Damit Menschen, die nur wenig verdienen, nicht benachteiligt werden, gibt es Maßnahmen, die die Kosten sozial ausgleichen: Dazu zählen beispielsweise die Senkung des Strompreises, steuerliche Entlastungen oder die Vergünstigung der Bahntickets. Dieser Politik-Mix enthält Maßnahmen, die auf eine Verhaltensänderung der Verbraucherinnen und Verbraucher abzielen, aber auch Ordnungsrecht, also Standards und Verbote. So sollen verschiedene Ebenen einbezogen werden: von der Privatperson und der Nachfrageseite (z. B. Rückgang des Verbrauchs) bis zur Produktion durch Unternehmen und der Angebotsseite (z. B. Bereitstellung saubereren Benzins). Die gesetzliche Verankerung von Klimaschutz hat den Vorteil, dass Ziele und Regelungen verbindlicher sind und nun auch andere Politikressorts dafür rechtlich in die Pflicht genommen werden.

Es hat sich jedoch schnell gezeigt, dass das Klimaschutzgesetz noch erheblichen Nachbesserungsbedarf hat. Im Frühjahr 2021 gab das Bundeverfassungsgericht neun jungen Klägerinnen und Klägern recht: Es entschied, dass das Gesetz nicht ausreichend sei, um das Grundrecht zukünftiger Generationen auf Freiheit (also z. B. in der Ausübung ihrer Lebensweise) zu gewährleisten. Deshalb müssen nun konkrete Zwischenstufen für die Reduktionsziele und ehrgeizigere Maßnahmen verabschiedet werden. Als ersten Schritt hat die Bundesregierung im Mai 2021 eine Steigerung des 2030-Minderungsziels von 55 auf 65 Prozent, ein Zwischenminderungsziel von 88 Prozent für 2040 und das Vorrücken der Klimaneutralität auf 2045 beschlossen.

Kritik an der deutschen und europäischen Klimaschutzpolitik

Die deutsche und die europäische Klimapolitik haben kurvenreiche Strecken durchlebt. In einigen Punkten sind sie durchaus fortschrittlich und anderen Ländern voraus. Aber es gibt noch viele Baustellen, und die Vergangenheit hat gezeigt, dass auch Deutschland nicht alle seine Versprechen eingehalten hat. 2021 muss es durch das Bundesverfassungsgericht zu ehrgeizigeren und konkreteren Zielen aufgefordert werden.

Häufig drehen sich Diskussionen um die Wirksamkeit von Klimaschutzinstrumenten. Fachleute sehen zum Beispiel voraus, dass die neue deutsche CO2-Abgabe und der entstehende geringe Aufschlag auf die Benzinkosten zu gering sein werden, um Menschen dazu zu bringen, weniger Auto zu fahren. Der größte Kritikpunkt an der Politik ist, dass nicht genug und nicht schnell genug gehandelt wird, um die nahende Klimakatastrophe zu verhindern.

Nach der ersten großen Euphorie um das Pariser Abkommen stand auch schnell der europäische Beitrag in der Kritik. Die europäische NDC wurde vom Think Tank Climate Action Tracker als ungenügend beurteilt, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Fachleute argumentieren, dass das Ziel hierfür mindestens einer Minderung um 65 Prozent bis 2030 entsprechen müsse. Mit dem verbesserten Minderungsziel von 55 Prozent und der Ankündigung einer angestrebten Treibhausgasneutralität hat die EU jedoch einen Schritt in die richtige Richtung getan.

Neue Chancen

Anderseits lässt ein Blick auf die vergangenen Jahre doch das Urteil zu, dass die Klimaproteste des Jahres 2019 etwas mehr Druck auf die Politik ausgeübt haben. Auch in der Wirtschaft gibt es immer mehr Unternehmen, die den Klimaschutz als Chance erkennen und beispielsweise in einen klimafreundlichen Umbau ihrer Produktion investieren. Dass überhaupt ein umfassendes deutsches Klimaschutzgesetz verabschiedet wurde und sich die Europäische Kommission unter der Führung der ehemaligen deutschen Ministerin Ursula von der Leyen weiterhin für Klimaschutz als Priorität stark macht, sind wichtige politische Zeichen. Auch der Verfassungsgerichtsbeschluss in Deutschland (in anderen Ländern der EU, wie den Niederlanden oder Frankreich, gab es ähnliche Urteile) für ein stärkeres Klimaschutzgesetz ist von großer Bedeutung, da es eindeutig feststellt, dass das bisherige Tempo und die Maßnahmen erheblich gesteigert werden müssen.

Zwar hat die Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 erhebliche neue Herausforderungen für die Weltgemeinschaft mit sich gebracht und in Anbetracht dieser Krise werden wieder Stimmen laut, die Klimaschutz nur als zusätzlichen Kostenfaktor sehen. Nichtsdestotrotz birgt dieser Moment jedoch eine Chance für einen tiefergreifenden Umschwung, um eine nachhaltigere und klimafreundliche Gesellschaft aufzubauen.

Klimapolitik in der Demokratie

Daniel Oppold
Gelingt es den Ländern der Erde nicht, die menschlich verursachten Klimaveränderungen einzudämmen, sind extreme Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaften zu erwarten. Die vom Weltklimarat IPCC erarbeiteten Szenarien bei einem wenig wirksamen klimapolitischen Handeln zeichnen beunruhigende Bilder der Zukunft: Millionen Menschen in vielen Regionen des Planeten könnten ihre Lebensgrundlage verlieren. Das betrifft alle Nationen, unabhängig von ihrer Staatsform. Denn die tiefgreifenden Umwälzungen der Umwelt haben Auswirkungen auf die Lebensrealität aller Menschen und werden deshalb unmittelbare soziale und politische Konflikte nach sich ziehen.

Der Klimawandel als Herausforderung für die Demokratie

In diesem Kontext taucht die Frage auf, ob die jeweiligen politischen Systeme und Regierungsformen überhaupt in der Lage sind, klimapolitisch angemessen zu entscheiden und zu handeln. Die heutige Klimapolitik bedingt damit also auch die Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Demokratische Staaten wie beispielsweise Deutschland, Kanada oder Frankreich, die im Rahmen der internationalen Klimapolitik zu den progressiven Kräften zählen, stehen vor einer fundamentalen Belastungsprobe.

Gelingt es ihnen auf demokratische Weise nicht, rasch klimawirksame Entscheidungen zu treffen, die in ihrer Tragweite der Problematik angemessen sowie zugleich umfassend legitimiert sind und als gerecht empfunden werden, könnte die Demokratie selbst zur Disposition stehen. Denn autoritäre Regime, wie beispielsweise das chinesische, können in Krisensituationen Vorteile haben: Sie sind in der Lage schnell und kompromisslos zu handeln, sobald sie ein Problem einmal als solches anerkannt haben. Die Klimakrise befeuert also den ohnehin herrschenden Wettstreit zwischen demokratischen und autoritären Systemen. Noch ist es eine offene Frage, ob – und wenn ja, wie – Demokratien und Autokratien fähig sein werden, diesen Herausforderungen angemessen zu begegnen.

In demokratischen Staaten ist der wachsende Druck der Klimakrise auf die Strukturen und Kulturen bereits deutlich spürbar. Er geht zunächst direkt von den physischen Auswirkungen der Klimaveränderungen aus, wie zum Beispiel von Extremwetterereignissen und ihren Folgen. Aber auch der Druck vonseiten der wachsenden zivilgesellschaftlichen Klima- bewegung nimmt zu, wie beispielsweise in Form der Fridays for Future-Proteste.

Beides kann Anpassungsleistungen wie etwa Reformen auslösen, die über die sachpolitische Ebene hinaus auch die Funktionsweise der Demokratie erweitern und diese im Umgang mit komplexen Herausforderungen leistungsfähiger machen können. Dass Demokratien prinzipiell in der Lage sind, sich selbst zu reformieren und weiterzuentwickeln, ist dabei eine wichtige und vielversprechende Voraussetzung: Die große Vielfalt der demokratischen Strukturen und Kulturen auf der ganzen Welt sowie auf den unterschiedlichen Ebenen innerhalb demokratischer Gesellschaftssysteme zeigt, wie flexibel die Demokratie mit Blick auf lokale, historische oder demografische Besonderheiten ausgeformt wird. Diese Anpassungsfähigkeit ist auch mit Blick auf die Bewältigung komplexer Zukunftsherausforderungen, wie sie (nicht nur) die Klimakrise darstellt, von zentraler Bedeutung.

Eine Weiterentwicklung der Demokratie ist aber keineswegs ein Automatismus. Als über Generationen hinweg gewachsene soziale Systeme sind insbesondere die westlichen Demokratien in ihrer nationalstaatlich organisierten Form eher strukturkonservativ. Dennoch können von Seiten der Politik und Verwaltung oder auch aus der Bürgerschaft bzw. der organisierten Zivilgesellschaft heraus neue demokratische Verfahren in Gang gebracht werden, die das Ziel haben, Zukunftsherausforderungen durch unkonventionelle Formen der Zusammenarbeit anzugehen.

Ein Beispiel für solche demokratischen Innovationen in jüngerer Zeit sind Prozesse der Bürgerbeteiligung, in deren Rahmen per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger beratend in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden. Als sogenannte Bürgerräte oder Bürgerversammlungen können sie – bestimmte Bedingungen vorausgesetzt – das bestehende Demokratiegefüge funktional ergänzen.

Nachfolgend sollen die Hintergründe dieser Entwicklung nachvollzogen werden und – illustriert am Beispiel der französischen Klima-Bürgerversammlung Convention Citoyenne pour le Climat – die Funktionsweisen und Potenziale solch demokratischer Neuerungen aufgezeigt werden.

Wirksames Handeln in der Klimakrise

Die klimatischen Veränderungen stellen über Jahrzehnte eingeübte gesellschaftliche Handlungsmuster in Frage und erfordern umfassende Verhaltensänderungen sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Es gilt nicht nur, das eigene Konsumverhalten bzw. generell den persönlichen Lebensstil selbstkritisch zu betrachten. Vielmehr ist es notwendig, dass aus diesen Überlegungen auch tatsächlich Verhaltensänderungen resultieren.

Das trifft vor allem auf die Menschen in den westlichen Industrie- und Konsumgesellschaften zu, deren Lebensstile in hohem Maße vom Verbrauch fossiler Ressourcen abhängen und dadurch pro Kopf überdurchschnittlich zur Ansammlung von Treibhausgasen in der Atmosphäre beitragen. Allein der Blick auf den Mobilitätssektor, auf den CO2-Ausstoß des alltäglichen, mit fossilen Brennstoffen befeuerten Autoverkehrs, auf die internationalen Lieferketten oder die Tourismusindustrie genügt, um zu erkennen, wie weitreichend gegenwärtige Lebensstile und moderne Gesellschaftsmodelle hinterfragt und verändert werden müssen, um die angestrebte Klimaneutralität zu erreichen.
Doch auch bei Einsicht in diese Notwendigkeiten und obwohl gerade in freiheitlichen Staaten der persönlichen Eigenverantwortung großes Gewicht beigemessen wird, fällt eine effektive Veränderung individuellen Handelns schwer. Denn die Handlungen jeder und jedes Einzelnen sind in die jeweils herrschenden gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eingebettet, die derzeit nicht an Nachhaltigkeitszielen ausgerichtet sind.

QuellentextVon den Hindernissen, moderne Gesellschaften auf ein gemeinsames Ziel zu verpflichten

Es ist kein Zufall, dass sich an der Klimafrage die Geister scheiden. Für die einen ist sie die finale Katastrophe, das letzte Gefecht von apokalyptischen Ausmaßen. Für die anderen ist sie geradezu ein Symbol für einen abgehobenen Experten- und Elitendiskurs mit kulturkämpferischen Dimensionen. […] Sobald Konflikte solche Formen annehmen, haben es tiefenschärfere Formen der Beobachtung schwer, denn beide Seiten kaprizieren sich auf Unbedingtes und finden im Gegenargument erst recht ihre Selbstbestätigung. Dabei gerät freilich die entscheidende Frage unter die Räder: Wie kann sich eine moderne, komplexe, in ihren Strukturen differenzierte Gesellschaft auf eine solche Gesamtherausforderung einstellen? […]

Man muss es leider sagen: Nicht bloß die natürlichen Kapazitäten der Erde sind knapp und nur begrenzt belastbar. Auch die Kapazitäten der Gesellschaft, ihre Fähigkeit zur Reaktion auf Störungen und Herausforderungen sind es. Wer über ökologische Knappheiten redet, muss auch über die Knappheit sozialer Mechanismen sprechen – […] die Erfahrung, dass die bloße Aufklärung über Missverhältnisse oder die bloße Erkenntnis dessen, was zu tun sei, sich nicht einfach in Handlungen umsetzen lässt. […]

Moderne Gesellschaften zeichnen sich nämlich durch eine besondere zivilisatorische Errungenschaft aus, die man vielleicht Dezentralisierung, Arbeitsteilung und Differenzierung nennen kann. […].

Modernität bedeutet letztlich so etwas wie das, was man im politischen Bereich Gewaltenteilung nennt. Es ist ein evolutionärer Prozess, dessen Gesamtrichtung dahin geht, dass es Instanzen, die alles zusammenführen und in einem Prinzip aufheben, nicht mehr geben kann. Alles ist auf Wechselseitigkeit angewiesen und erfährt an sich selbst, dass sich das Gesamtsystem nicht allein ökonomisch, nicht allein rechtlich, nicht allein wissenschaftlich, nicht einmal allein religiös bestimmen, führen, verändern, gestalten lässt. […]

Was hat das mit Strategien gegen den Klimawandel zu tun? Fast alles. Sieht man im Klimawandel tatsächlich so etwas wie eine existenzielle Bedrohung, dann lässt sich daran durchdeklinieren, dass die moderne Gesellschaft gerade nicht in der Lage ist, darauf wie aus einem Guss, mit einer Strategie, gewissermaßen in einer konzertierten Aktion zu reagieren. Wie bei allen anderen Themen wirken auch hier jene zivilisatorischen Sicherungen, die das Gesamtsystem an einer einheitlichen, zentralisierten Reaktion hindern.
Das lässt sich an jeder einzelnen Reaktion besichtigen – wer politisch das (vermeintlich) Richtige durchsetzen will, muss es einerseits so appellativ tun, wie es der Klimabewegung mit großem Aplomb gelingt, andererseits so, dass die Betroffenen ihn wiederwählen. Wer ökonomische Veränderungen herbeiführen will, bleibt daran gebunden, dass dies auf den (Welt-)Märkten darstellbar ist, sonst ist jeglicher Gestaltungsspielraum perdu. Und wer rechtliche Regulierungen will, muss zumindest auf die Konsistenz der Rechtsanwendung und der Normenkontrolle achten.

Selbst bei Konsens über Grundziele, wie sie in Resolutionen vereinbart werden, reagieren die unterschiedlichen Instanzen der Gesellschaft nach ihren je eigenen Regeln und Erfolgskriterien. Politik ohne Machtchance ist ebenso unmöglich wie ökonomisches Handeln ohne Markterfolg. Die Funktionsstelle fürs Ganze gibt es nicht, und wo man sie einzurichten sich anschickt, werden die Standards der Moderne unterlaufen.

Man kann daran verzweifeln, weil es so aussieht, als würden die eingebauten Sicherungen sich nun gegen das System selbst kehren. […] Es liegt fast nahe, die Sicherungen der Moderne außer Kraft setzen zu wollen – denn gerade jetzt wird das Risiko der Gewaltenteilung und der Dezentralisierung sichtbar. Märkte sind zwar grandiose Problemlöser, aber sie produzieren auch Produkte, die nur der Markt braucht. Die Demokratie ist eine geniale Form der Entscheidungsfindung, aber die Leute wählen bisweilen falsche Lösungen. Die Wissenschaft ist unfassbar leistungsfähig, aber die Erwartung nach eindeutigen Lösungen kann sie gerade deswegen nicht stillen.

Exakt aus diesem Grund wirken Forderungen nach einem Herunterfahren der Industriegesellschaft oder nach drastischen Verboten bestimmter Praktiken, selbst wenn sie klimatechnisch alles Recht auf ihrer Seite hätten, völlig unrealistisch, ganz abgesehen von den eher symbolpolitischen Diskussionen um das SUV oder der Forderung nach einer Blockwartmentalität zur Durchsetzung angemessenen Verhaltens. Man muss aber diese Diskussion führen, wie sich Verhaltensänderungen und Emissionsvermeidung nicht gegen die, sondern mit den Instanzen, Routinen und Strukturen der Gesellschaft einstellen können. […]

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber der Kulturzeitschrift "Kursbuch".
Armin Nassehi, "Alles, sofort? Das geht nicht", in: DIE ZEIT Nr. 44 vom 24. Oktober 2019

Industriegesellschaften wie Deutschland sind aufs Engste mit Schlüsseltechnologien wie etwa dem Verbrennungsmotor verwoben: Selbst, wenn sie es wollen, können viele Menschen ihren Alltag ohne die Nutzung eines PKWs gar nicht bewältigen. So sind beispielsweise in den ländlichen Räumen Bus- und Bahnnetze wenig bis gar nicht ausgebaut bzw. wurden aus Rentabilitätsgründen eingestellt. Dieses Beispiel lässt sich auf die Nutzung fossiler Ressourcen im Allgemeinen ausweiten: Ohne Erdölprodukte ist die gegenwärtige Welt kaum (mehr) vorstellbar.

Historisch gewachsene Rahmenbedingungen beeinflussen in hohem Maße, welche Entscheidungen Menschen bewusst oder unbewusst im Alltag treffen und wie sich die damit zusammenhängenden Handlungen auf die Umwelt auswirken. Das führt dazu, dass sich trotz eines steigenden Bewusstseins über die klimatischen Konsequenzen individuelle Lebens- und Verhaltensweisen nicht in ausreichendem Umfang ändern.

Aus diesem Grund kommt den sozioökonomischen, strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen große Bedeutung bei der Bekämpfung des Klimawandels zu. Denn sie bestimmen über die verfügbaren Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen die Menschen sich im Alltag entscheiden (können). Die klimapolitisch wirksame Gestaltung dieser Rahmenbedingungen bildet deshalb einen starken Hebel, um klimafreundliche Verhaltensweisen wahrscheinlicher zu machen: Wenn beispielsweise Produkte aus fossilen Quellen, die (un-)mittelbar CO2 in den Stoffkreislauf der Atmosphäre eintragen, durch Abgaben verteuert werden, hat dies in einer Marktwirtschaft nicht nur Auswirkungen auf individuelle Konsumentscheidungen, sondern setzt im Idealfall Anreize für klimafreundliche(re) Innovationen und die Weiterentwicklung ganzer Wirtschaftszweige.

Potenziale demokratischer Weiterentwicklung

Die Klimakrise kann treffend als wicked problem charakterisiert werden. Solche "vertrackten Probleme" sind definitionsgemäß von einer großen Unübersichtlichkeit geprägt: Die überwältigende Komplexität der Zusammenhänge macht es schwer zu erkennen, wo konkrete Strategien und Handlungsmöglichkeiten wirksam ansetzen können. Die Notwendigkeiten einer effektiven Klimapolitik kollidieren zwangsläufig mit anderen Zielgrößen und Grundwerten, wie etwa dem Streben nach ökonomischem Wohlstand, Gerechtigkeitsfragen und individuellen Freiheitsverständnissen.

Vor diesem Hintergrund geraten demokratische Prozesse, die nach verbreitetem Demokratieverständnis vorrangig auf eine Ausbalancierung unterschiedlicher Interessen abzielen, an ihre Grenzen. Und dies, obwohl die demokratischen Grundmechanismen vor keine unmögliche Aufgabe gestellt werden: Denn Demokratien beweisen beispielsweise mit jeder Reform, dass sie in der Lage sind, auch tiefgreifende Veränderungen einzuleiten.

Damit entsprechende Gesetzesänderungen oder -novellen zustande kommen, genügt es in repräsentativen Demokratien – rein oberflächlich betrachtet –, die entsprechenden Mehrheiten zu organisieren. Doch aufgrund der tiefgreifenden und umfassenden Natur des Klimawandels kann Klimapolitik nicht nur als ein weiteres Politikfeld neben anderen behandelt werden, in dem klimapolitische Notwendigkeiten in Zielkonflikten gleichrangig mit beispielsweise Wirtschafts-, Landwirtschafts- oder Verkehrspolitik verhandelt werden. Vielmehr ist Klimapolitik ein Querschnittsthema, das erst dann tatsächlich wirksam sein kann, wenn ihre konkreten Zielsetzungen auf dem Weg zu einer klimaneutralen Gesellschaft von allen Sektoren, Institutionen und Individuen unterstützt und zur handlungsleitenden Maxime werden. Obwohl diese Verankerung einer wirksamen Klimapolitik als Grundkonsens mit der Zustimmung zum Pariser Abkommen bereits vollzogen wurde und dies Umfragen zufolge auch eine breite Zustimmung in der Gesellschaft genießt, steht die notwendige Konkretisierung noch aus.

Einigungen auf wirkungsvolle klimapolitische Maßnahmen kommen auf allen Ebenen nur langsam voran. Unter anderem, weil sie immer wieder fundamental mit etablierten lokalen Lebensweisen kollidieren. Die grundsätzliche Zustimmung zur Klimapolitik bedeutet nicht, dass automatisch auch höhere Spritpreise, neue Stromtrassen oder das Windrad in Sichtweite akzeptiert werden. In Deutschland lässt sich dies an der Geschichte des Kohleausstiegs eindrücklich nachvollziehen: Obwohl die Unausweichlichkeit dieses Schrittes in Wissenschaft, Öffentlichkeit und auch Wirtschaft bereits seit Jahrzehnten bekannt ist, wurde diese zentrale klimapolitische Entscheidung erst 2020 verabschiedet.

Eine weitere Ursache für die zögerliche Behandlung der klimapolitischen Agenda scheint darin zu liegen, dass der extrem langfristigen Natur der Klimakrise die kurzfristigen Zyklen und Logiken repräsentativ-demokratischer Prozesse gegenüberstehen: Die Entstehung mehrheitsfähiger politischer Entscheidungen hängt indirekt stark von Faktoren wie beispielsweise anstehenden Wahlterminen oder Entwicklungen in anderen Politikbereichen ab. Langfristig gültige, die Zukunft betreffende Weichenstellungen, die zudem große Zumutungen für die Gesellschaft und die Wirtschaft bedeuten, fallen im Rahmen dieser systemischen Zwänge schwer. Ein gutes Beispiel sind die "Gelbwesten"-Proteste in Frankreich, die durch die Ankündigung einer Erhöhung der Benzinpreise (mit-)ausgelöst wurden (siehe auch unten).

Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass – ganz im Gegensatz zum abschließenden, öffentlichen Entscheidungsakt (beispielsweise per Abstimmung oder Wahl) – die Phase, die diesem Entscheidungsakt vorausgeht und in der Entscheidungsalternativen erwogen werden, oft unzugänglich bleibt. Selbst wenn beabsichtigt wird, diese Phase transparenter und partizipativer zu gestalten – wie zum Beispiel in der Debatte um den Kohleausstieg mit der Einrichtung der sogenannten Kohlekommission angestrebt – können auch in dieser Phase macht- und interessenpolitische Einflüsse wirksam werden, die sich unter Umständen der Öffentlichkeit entziehen.

Hier können eine hohe prozedurale Nachvollziehbarkeit und angemessene Partizipationsmöglichkeiten wesentlich zur Steigerung der Legitimation von Entscheidungen beitragen. Dies umso mehr, wenn absehbar ist, dass politische Entscheidungen und Maßnahmen von solchem Umfang und solcher Tragweite getroffen werden müssen, wie das für eine wirksame Klimapolitik notwendig ist.

QuellentextStrukturwandel – auf ein Neues

Bis zum Ende der DDR war die zentrale Funktion der Lausitz der Abbau und die Verstromung der Braunkohle für das halbe Deutschland Ost. Mit zuletzt 80.000 direkt Beschäftigten setzte die Kohle den ökonomischen, sozialen und sogar kulturellen Rahmen über mehrere Generationen hinweg. Als in Folge des Zusammenbrechens der DDR und ihrer Volkswirtschaft über 90 Prozent der Arbeiter*innen in der Kohle entlassen und zahlreiche Kraftwerke und Tagebaue geschlossen wurden, zerbrachen Gewohnheiten und Sicherheiten. […]

Die verbliebenen Kraftwerke und Tagebaue befeuern den Konflikt um die ökologische Verträglichkeit und die Folgen für Menschen und Landschaft. Unter den zehn emissionsintensivsten Industrieanlagen Europas finden sich alle drei Lausitzer Braunkohlekraftwerke. Die Reste der Kohleindustrie sollen nun stillgelegt werden, damit Deutschland seine Emissionsziele erreicht. Was bedeutet diese Perspektive für den Strukturwandel in der Region? […]

Während der Kohleausstieg deutschlandweit großen Zuspruch erfährt, sind in der Lausitz weniger Menschen davon überzeugt als im Rest des Landes. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Debatten der vergangenen zwei Jahre auch die Einstellungen in der Region verändert haben. Während Lausitzer Kohlebefürworter*innen den Ausstieg noch vor wenigen Jahren grundsätzlich ablehnten oder einen späteren Ausstieg verlangten, fordern sie nun, das verabredete Ausstiegsdatum 2038 einzuhalten. […].

Sollten die finanziellen Zusagen eingehalten werden, werden in der Lausitz in den kommenden zwei Jahrzehnten etwa 17 Milliarden Euro Strukturwandelförderungen zu investieren sein. Davon fließt ein Drittel direkt an die Bundesländer, die übrigen Gelder werden durch die entsprechenden Bundesministerien in den betroffenen Regionen eingesetzt. Legislativ verankert werden die entsprechenden Bestimmungen im Strukturstärkungsgesetz sowie im Kohleausstiegsgesetz. Für Landesregierungen, Bürgermeister*innen, Strukturwandelorganisator*innen und Engagierte bedeutet das, belastbare Visionen und leistungsfähige Governancestrukturen zur Umsetzung zukunftsweisender Projekte finden zu müssen, die wirkungsvoll und integrativ sind. […] […] Die Problemdiagnosen der verschiedenen Akteur*innen unterscheiden sich daher berechtigterweise sehr voneinander. […]

Der Strukturwandel in der Lausitz braucht Zeit und sollte nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Die anstehende Transformation ist ein Anlass, damit Lausitzer*innen sich darüber verständigen können, in welcher Zukunft sie leben wollen – in wirtschaftlicher, sozialer, politischer, ökologischer und kultureller Hinsicht. […]

Der Strukturwandel wird ausgelöst und flankiert von der Bundesebene, umgesetzt und gestaltet werden muss er jedoch lokal. […] Für die bundes- und landespolitischen Weichenstellungen bedeutet dies, dass Entscheidungen über Projekte und Förderprioritäten auch in der Lausitz selbst getroffen werden müssen. Das verändert jedoch Routinen und verkleinert Entscheidungsspielräume etablierter politischer Akteure*innen. Im besten Fall kann sich aber so ein Mentalitätswandel vollziehen, in dem Erfolge im Strukturwandel auch als die eigenen verstanden werden. […]

Dieser Ansatz schlägt sich in neuen Formen der Mitbestimmung und strukturierter Beteiligung nieder, die die demokratischen Verfahren ergänzen können. Beteiligung bietet hierbei die Gelegenheit, eine gemischte Gruppe von Bürger*innen zu erreichen, die über Interessengruppen hinausgeht. Beteiligung und Mitbestimmung können daher zu besseren Ergebnissen im Strukturwandel führen, da die lokalen Gegebenheiten stärker berücksichtigt werden. Auch kann sich die Selbstwirksamkeit derjenigen erhöhen, die sich bisher übergangen fühlen. Erste Schritte in diese Richtung wurden in der Lausitz im Rahmen der Zukunftswerkstatt bereits unternommen. […]

Konrad Gürtler / Victoria Luh / Johannes Staemmler, Strukturwandel als Gelegenheit für die Lausitz, in: APuZ 6–7/2020, S. 32 ff.

Sogenannte demokratische Innovationen, wie beispielsweise Bürgerräte, zielen darauf ab, das repräsentativ-demokratische System funktional zu ergänzen. Sie versuchen neue oder zusätzliche demokratische Räume zu schaffen, die nicht von den beschriebenen Zwängen dominiert sind. So stellt bei Bürgerräten die Zufallsauswahl der Teilnehmenden sicher, dass nicht die üblichen (organisierten) Interessenvertreter am Tisch sitzen, sondern eine möglichst diverse Gruppe von Laien. In Arenen wie Bürgerräten ist es das erklärte Ziel, genau die Einschätzung dieser Laien zum Thema kennenzulernen – und daraus zusätzliche Empfehlungen für die anstehenden Entscheidungen zu gewinnen.

Dazu werden diesen Gruppen relevante (wissenschaftlich gesicherte) Informationen, nicht- oder unterrepräsentierte Sichtweisen sowie diverse Argumente zum Thema als Diskussionsgrundlage bereitgestellt. Fachleute, Betroffene oder Interessenvertreter unterschiedlicher Positionen werden eingeladen, um von den Bürgerräten angehört zu werden.

In den eigentlichen Debatten der Bürgerräte bleiben diese Stimmen jedoch außen vor, sodass hier Macht- oder Interessenpolitik keine Rolle spielen. So bleibt Zeit und Raum für sachliche Betrachtung und inhaltliche Beratschlagung auf der Suche nach den besten Argumenten und Ideen. Diese werden anschließend den auftraggebenden Gremien, wie etwa einem Parlament, als Empfehlungen zur Verfügung gestellt.

Das Beispiel der Klima-Bürgerversammlung in Frankreich

Zuletzt war von Oktober 2019 bis Juni 2020 in Frankreich zu beobachten, wie klimapolitische Entscheidungsprozesse durch demokratische Innovationen bereichert werden können: Dort hatten klimapolitische Ankündigungen der Regierung, vor allem die Einzelmaßnahme einer Spritpreis-Erhöhung, 2018 zu heftigen Protesten in der Bevölkerung geführt. Um diese Stimmung zu entschärfen und klimapolitische Fortschritte in stärkerem gesellschaftlichem Konsens zu ermöglichen, wurde ein nationaler Klima-Bürgerrat, die Convention Citoyenne pour le Climat (CCC), einberufen.

Auf Einladung von Präsident Emmanuel Macron kamen 150 zufällig ausgewählte Französinnen und Franzosen an insgesamt sieben Wochenenden zusammen, um sich zur Frage zu beratschlagen, wie Frankreich seine Treibhausgasemissionen sozialverträglich um mindestens 40 Prozent bis zum Jahr 2030 reduzieren könnte. Die Bürgerinnen und Bürger hörten dazu Fachvorträge an, debattierten und erarbeiteten klimapolitische Vorschläge.

Im Ergebnis wurden Präsident Macron 149 Empfehlungen übergeben, welche die Teilnehmenden durch Mehrheitsbeschluss als geeignet befunden hatten. Der Präsident hatte wiederum vorab zugesichert, dass er die legislativen und regulatorischen Empfehlungen der CCC ungefiltert in Gesetzgebungsprozesse, präsidiale Dekrete oder gar nationale Referenden einbringen werde. Wobei die Entscheidung der CCC überlassen wurde, festzulegen, auf welchem dieser drei Pfade ihre Empfehlungen weiterverfolgt werden sollten.

Zwar hielt Präsident Macron sein Versprechen nicht vollumfänglich ein und erteilte drei der 149 Empfehlungen des Klima-Bürgerrates bereits kurz nach Abschluss der CCC eine Absage. Das betraf einmal den Vorschlag zur Erhebung einer Steuer von vier Prozent auf Dividenden, bei dem die Regierung auch die Bremsung von Investitionen befürchtete. Vertagt wurde auch die Anregung, das Tempolimit auf Autobahnen von 130 auf 110 km/h herabzusetzen. Und der Präsident sah keine Möglichkeit, die Präambel der französischen Verfassung um einen Klimaschutz-Passus zu ergänzen, da ein solcher nicht über die bürgerlichen Rechte gestellt werden könne.

Dem verbleibenden umfangreichen Klima-Maßnahmenpaket der CCC hat Macron jedoch zugestimmt. Es wird in Frankreich derzeit vom Parlament debattiert und soll 2021 Bestandteil eines "Multi-Maßnahmen-Gesetzes" werden. Einige Vorschläge wurden auch direkt an den Rat für Umweltschutz weitergeleitet oder fanden im französischen Corona-Konjunkturpaket ihren Niederschlag. Die CCC ermöglichte auf diese Weise bereits einige klimapolitische Fortschritte in Frankreich – und das angesichts einer spannungsreichen Lage im Land, die wesentlich durch als autoritär und bürgerfern empfundene klimapolitische Ankündigungen der Regierung im Jahr 2018 ausgelöst worden war.
Die Funktionalität einer Bürgerversammlung wie der CCC ergibt sich vor allem aus drei zentralen Merkmalen der Prozessgestaltung:

  • die Zufallsauswahl der Teilnehmenden

  • ein ergebnisorientiert gestalteter Rahmen, in dem die Teilnehmenden miteinander interagieren

  • die solide Einbindung des Verfahrens in das bestehende Demokratiegefüge.

Das Zufallsprinzip bei der Rekrutierung der Teilnehmenden schafft gänzlich andere Voraussetzungen für den Verlauf eines Bürgerbeteiligungsverfahrens als Wahl, Entsendung oder aber Selbstrekrutierung. Ein geeignetes methodisches Vorgehen vorausgesetzt, gelingt es mit einer Zufallsauswahl, eine maximal vielfältige Gruppe von Menschen zusammenzubringen, die explizit keine Repräsentations- oder Vertretungsfunktionen erfüllen. Das ist die Voraussetzung für einen unvoreingenommenen Umgang der Teilnehmenden mit dem Thema der Bürgerversammlung. Ihre Meinungen und Ansichten sind nicht festgelegt, können sich im Verlauf weiterentwickeln, ausdifferenzieren oder verändern und in einem möglichst machtfreien Zusammenspiel Kreativität freisetzen.

Diese sogenannten deliberativen Qualitäten werden dadurch befördert, dass die Teilnehmenden mithilfe professioneller Prozessbegleitung in unterschiedlichen Interaktionsformaten miteinander in Austausch gebracht werden. Dazu gehörten im Fall der CCC in besonderer Weise Diskussionen in Kleingruppen mit wechselnder Zusammensetzung. Mithilfe der Prozessbegleitung wurde dabei sichergestellt, dass die Teilnehmenden individuell zu Wort kamen und die eigenen Erfahrungen, Gedanken und Ideen darstellen und entwickeln konnten. Aber auch speziell gestaltete Plenums-Runden kamen zum Einsatz, in denen Prozessschritte beraten wurden oder aber Fachleute bzw. Vertreter einschlägiger Positionen angehört und befragt werden konnten.

Wie bei anderen Bürgerversammlungen oder Bürgerräten waren zudem auch bei der französischen CCC die Rahmenbedingungen des Beteiligungsprozesses entscheidend. Bereits vorab wurde klar definiert, auf welche Art und Weise die Bürgerinnen und Bürger partizipieren sollten: Fragestellung, mögliche Ergebnisformen und deren Weiterverwendung in den demokratischen Institutionen wurden eindeutig vom Auftraggeber – Präsident Macron – festgelegt. Damit herrschte bereits vorab Transparenz über den Prozess, seine Anbindung an die demokratischen und administrativen Strukturen und den Spielraum zur Mitwirkung durch die Teilnehmenden.

Demokratische Innovationen, wie die beschriebene CCC, können auf diese Weise die repräsentative Demokratie ergänzen, ohne dabei als Parallel-Parlament oder direktdemokratische Systemalternative zu wirken. Innerhalb von Bürgerversammlungen und Bürgerräten rückt die demokratische Funktion der verständigungsorientierten Beratschlagung – Deliberation – in den Mittelpunkt. Sie ermöglicht es, die besten Ideen und Argumente zu identifizieren und als Impulse an die Gremien und durch Wahlen legitimierte Vertreterinnen und Vertreter der repräsentativen Demokratie weiterzugeben.

Die Klima-Bürgerversammlung in Frankreich ist kein Einzelfall. Vorläufer auf nationaler Ebene, die ebenfalls ein Gremium zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger zur Beratung der repräsentativen Demokratie bei unterschiedlichsten Themen eingeschaltet haben, gab es bereits zuvor. Etwa bei den "Citizens’ Assemblies" in Kanada und Irland.

So beriet in Kanada 2012 eine solche Versammlung über eine mögliche Änderung des Wahlrechts – die letztlich in einem Referendum abgelehnt wurde. In Irland erarbeitete eine Bürgerversammlung einen Vorschlag für eine Verfassungsänderung um die gleichgeschlechtliche Ehe zu ermöglichen, der in einem Referendum angenommen wurde.
In Deutschland tagte im Jahr 2019 erstmals ein nationaler Bürgerrat aus 160 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern zur Frage, wie das politische System in Deutschland um Formen von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie weiterentwickelt werden könnte. Anfang 2021 folgte ein Bürgerrat zur "Rolle Deutschlands in der Welt", wobei das Thema vom Ältestenrat des Bundestages fraktionsübergreifend beschlossen wurde. Und auch im Rahmen der 2021 von der EU initiierten "Konferenz zur Zukunft der EU" sollen Gremien mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern eine Rolle spielen.

Unterhalb der nationalen Ebene wird bereits seit Jahrzehnten in großer Formenvielfalt auf das Prinzip der Zufallsauswahl gesetzt: Planungszellen, lokale Bürgerräte, unterschiedliche Varianten von Zukunftsräten, Bürgerparlamente und viele weitere Modellvarianten bereichern auf kommunaler, (inter-)regionaler und Länderebene die Demokratie. Zudem werden diese Prozesse zunehmend institutionalisiert, wie etwa im österreichischen Bundesland Vorarlberg, wo im Jahr 2013 eigens die Landesverfassung geändert wurde, um Bürgerräte fortan regelmäßig zu wichtigen Themenbereichen einberufen zu können.

Ausblick

Gegenwärtig verfügen rund 70 Staaten weltweit über ein demokratisches Regierungssystem. Trotz erheblicher Unterschiede in der jeweiligen konkreten Ausgestaltung dieser Staatswesen lebt damit knapp die Hälfte der Menschheit in Demokratien. Unter ihnen finden sich die finanzkräftigsten und innovativsten Staaten des Planeten, denen eine besondere klimapolitische Verantwortung zufällt. Diese Verantwortung muss in praktische Politik umgesetzt werden, wenn wirksame klimapolitische Entscheidungen und Handlungen erzeugt werden sollen.

Dabei können Weiterentwicklungen des demokratischen Systems, wie etwa durch Bürgerräte, hilfreich sein, um der klimapolitischen Komplexität gerecht zu werden. Sie haben das Potenzial, den pluralistischen Streit um die besten Entscheidungsalternativen mit der Perspektive der Bürgerschaft zu bereichern und ermöglichen es damit – zumindest temporär und themenbezogen –, zwischen den Wahlterminen eine Rückkopplung mit der Bürgerschaft als dem Souverän eines demokratischen Staatswesens zu vollziehen.
Zudem sind Nebenwirkungen solcher Prozesse nicht zu unterschätzen, wie beispielsweise die Erfahrungen politischer Selbstwirksamkeit, die sich für die nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Teilnehmenden eines Bürgerrates erwiesenermaßen oft in einer gesteigerten Bereitschaft zu politischem Engagement niederschlagen. Solche Nebeneffekte sind von zentraler Bedeutung für die Demokratie, deren Zukunft von der individuellen Bereitschaft aller Bürgerinnen und Bürger abhängt, sich im Gemeinwesen einzubringen. Ganz gleich, ob in Form einer Kandidatur für ein politisches Amt, der Mitarbeit in einer Partei oder etwa durch klimapolitischen Aktivismus und anderweitige kreative Formen des Engagements.

Innovative "deliberative" Möglichkeiten zum wechselseitigen Gedankenaustausch können zur Vertiefung einer demokratischen Kultur beitragen, in der die gemeinsame Suche nach den besten Argumenten und Ideen im Zentrum steht. Und nicht – wie zum Beispiel bei direktdemokratischen Prozessen oft zu beobachten – allein die Durchsetzung einer Meinung oder Idee gegen eine andere. Damit wirken sie auch der polarisierenden und spaltenden Logik von Demagogie und Populismus entgegen, denn demokratische Innovationen sind darauf ausgerichtet, die repräsentative Demokratie zu ergänzen, und wollen sie nicht ersetzen. Gerade mit Blick auf die hochkomplexen Wechselwirkungen, die eine wirksame Klimapolitik in der Praxis erschweren, schaffen sie so eine tragfähigere Ausgangslage. Auf der lokalen Ebene werden diese Potenziale offenbar zunehmend erkannt: In vielen Kommunen entstehen derzeit sogenannte Klima-Bürgerräte und verwandte Ansätze , um die Weichen für klimapolitisch relevante Entscheidungen gemeinsam mit der Bürgerschaft zu stellen – ein Zeichen dafür, dass die Demokratie beginnt, ihre Anpassungsfähigkeit auch mit Blick auf die Klimakrise als Stärke einzusetzen.

In diesem Zusammenhang kommt dem grenz- und kulturübergreifenden Austausch eine zentrale Bedeutung zu, damit Demokratien auch in Bezug auf die Herausforderungen des Klimawandels stärker von- und miteinander lernen. Nur in gemeinsamer Anstrengung lässt sich diesen Herausforderungen wirksam und nachhaltig begegnen.

In 10 Punkten zu mehr Klimaschutz (© Esther Gonstalla, Das Klimabuch, oekom verlag München 2019 S.96/97; www.oekom.de/buch/das-klimabuch-9783962381240)

Dr. Charlotte Unger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin IASS. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind unter anderen Prozesse und Instrumente der internationalen Klimapolitik, transnationale und Nicht-Regierungs-Akteure in der globalen Klima-Governance sowie die Verknüpfung von Luftqualitäts- und Klimaschutz-Politikansätzen.

Daniel Oppold ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und arbeitet seit 2016 am IASS. Sein wissenschaftliches Interesse gilt in besonderer Weise dem Bereich der beteiligungszentrierten Demokratietheorien und der Erforschung dialogorientierter Beteiligungsformen. Der Schwerpunkt seiner Arbeit am IASS umfasst zudem die Beratung und aktive Begleitung von Bürgerbeteiligungsprozessen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.