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NATO-Norderweiterung: Der Deal mit der Türkei

Redaktion

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Schweden und Finnland haben offiziell die Mitgliedschaft bei der NATO beantragt. Alle 30 Bündnisstaaten müssen dem Beitritt zustimmen. Die Türkei fordert im Gegenzug Auslieferungen.

Politikerinnen und Politiker der Türkei, Schweden und Finnlands beim NATO-Gipfel in Madrid (28.06.2022). Hintere Reihe von links: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der finnische Präsident Sauli Niinisto und die schwedische Premierministerin Magdalena Andersson. Vordere Reihe von links: der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, der finnische Außenminister Pekka Haavisto und die schwedische Außenministerin Ann Linde. (© picture-alliance, TT NEWS AGENCY | Henrik Montgomery/ TT)

Hinweis

Aktuelle Entwicklungen im Hintergrund aktuell Interner Link: NATO-Norderweiterung: Der Beitritt Finnlands.

Die russische Invasion in die Ukraine hat in vielen europäischen Ländern zu einer Neuausrichtung der Sicherheitspolitik geführt – so auch in Schweden und Finnland, die eine lange Tradition der militärischen Bündnisneutralität haben. Beide Staaten gehören der Interner Link: NATO bislang nicht an, intensivierten im Anschluss an den Überfall aber ihre Kooperation mit dem Verteidigungsbündnis. Die zwei EU-Mitgliedsstaaten sind neben dem Baltikum besonders von der angespannten Sicherheitslage in Europa und dem Ostseeraum betroffen. Finnland ist mit einer gemeinsamen Grenze von über 1000 Kilometern Nachbarstaat Russlands.

Am 17. und 18. Mai 2022 stellten Finnland und Schweden Anträge auf Mitgliedschaft in der NATO. Bereits kurz zuvor hatte die Türkei angekündigt, den Beitrittsanträgen der beiden Länder nicht zustimmen zu wollen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kritisierte die angeblich mangelnde Bereitschaft beider Länder zur Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus. Zwar befürworteten die meisten anderen NATO-Staaten den Beitritt. Doch Entscheidungen innerhalb der NATO müssen einstimmig getroffen werden, in einer sogenannten konsensualen Entscheidungsfindung.

Mehr InformationenDie NATO und ihre Entscheidungsfindung

Gegründet wurde der Nordatlantik-Pakt (North Atlantic Treaty Organization, NATO) im Jahr 1949 durch zwölf europäische und nordamerikanische Staaten. Als System kollektiver Verteidigung richtete sich das Bündnis gegen die Sowjetunion. Diese stellte mit ihren Expansionsbestrebungen insbesondere für die europäischen Staaten eine unmittelbare Bedrohung dar und trat vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Kalten Krieges in eine direkte Konkurrenz zu den USA um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt. In den 1990er-Jahren wurde der Ansatz der kollektiven Sicherheit für die Allianz zu einem bestimmenden Merkmal und außerdem zur Grundlage für die Osterweiterung der NATO. Systeme kollektiver Sicherheit wirken nicht nur nach außen, sondern auch nach innen und befrieden die Beziehungen der Mitglieder untereinander. Aktuell hat die NATO 30 Mitglieder, darunter die USA, Türkei, Großbritannien und Deutschland (Stand 06.09.2022).

Entscheidungen werden bei der NATO im Konsens getroffen – alle Mitgliedsstaaten müssen einverstanden sein. Statt abzustimmen, wird bei möglichen Streitpunkten so lange verhandelt, bis eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung gefunden ist. Wenn ein Beschluss zustande kommt, drückt er den "kollektiven Willen" aller Mitgliedsländer der NATO aus. Umgekehrt heißt das auch, dass jedes Mitgliedsland die Möglichkeit hat, mit einem Veto Beschlüsse zu verhindern.

Erdoğan forderte, die Beitrittskandidaten sollten sich stärker für die "Bekämpfung des Terrorismus" engagieren. Auch warf er den zwei Staaten vor, Terroristen zu beherbergen und kritisierte, insbesondere Schweden unterstütze nur unzureichend die Verfolgung der Interner Link: Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Interner Link: Gülen-Bewegung. Letztere macht Erdoğan Interner Link: für den Putschversuch von 2016 verantwortlich. Außerdem liefere Schweden Ankara zufolge Waffen an die syrisch-kurdische Miliz Interner Link: YPG, also die bewaffneten Einheiten der syrischen PKK-Schwesterorganisation "Partei der Demokratischen Union" (PYD). Die YPG und die Gülen-Bewegung werden in der EU nicht als Terrororganisation gelistet. Die Interner Link: PKK jedoch gilt in den USA, der EU und der Türkei als terroristische Vereinigung.

Verhandlungen über mehrere Wochen

Die Türkei und die zwei Beitrittskandidaten verhandelten mehrere Wochen über einen Kompromiss. Zu einer Einigung kam es am 28. Juni 2022. Der türkische und finnische Außenminister sowie die schwedische Außenministerin unterzeichneten ein Abkommen, Externer Link: "trilaterales Memorandum" genannt. Die Türkei konnte sich dabei in vielen Verhandlungspunkten durchsetzen.

In dem Memorandum versprechen die beiden nordeuropäischen Länder der Türkei "ihre volle Unterstützung" gegen Bedrohungen der nationalen Sicherheit. Dazu gehört, dass Finnland und Schweden künftig der YPG keine Unterstützung gewähren wollen. Gleiches gilt für die Gülen-Bewegung. Schweden und Finnland verurteilen zudem alle terroristischen Organisationen, die Anschläge gegen die Türkei verübt haben. Auch wird die PKK in dem Abkommen explizit als verbotene terroristische Organisation bezeichnet. Beide Staaten kündigen ferner an, ihr Strafrecht in Hinblick auf terroristische Straftaten zu verschärfen. Außerdem bestätigen Schweden und Finnland, dass es künftig keine Waffenembargos mehr zwischen ihnen und der Türkei geben soll. 2019 hatten die Länder Waffenexporte an die Türkei nach einer türkischen Militäroffensive gegen die YPG beschränkt.

Umstrittener Punkt acht

In Punkt acht des zehn Punkte umfassenden Memorandums werden konkrete Schritte zur Umsetzung der Vereinbarung vereinbart. Eine Passage ist dabei umstritten: Finnland und Schweden bekräftigen, "die anhängigen Ersuchen der Türkei um Abschiebung oder Auslieferung von Terrorverdächtigen zügig und gründlich" zu behandeln und dabei die von der Türkei zur Verfügung gestellten "Informationen, Beweise und Erkenntnisse" zu berücksichtigen.

Die Formulierungen lösten bei in Schweden und Finnland lebenden Kurden die Befürchtung aus, dass sie trotz politischer Verfolgung in die Türkei abgeschoben werden könnten.

Reaktionen auf das Abkommen

In Schweden stand das Memorandum von Beginn an in der Kritik. Kurdische Verbände sehen in den neuen Regelungen einen Verrat an ihrer Volksgruppe und einen Ausverkauf demokratischer Werte. Die parteilose und aus den iranischen Kurdengebieten stammende Abgeordnete Amineh Kakabaveh sprach anlässlich der Unterzeichnung von einem "schwarzen Tag in der schwedischen politischen Geschichte". Auch die Vorsitzende der Grünen in Schweden, Märta Stenevi, zeigte sich angesichts der Wiederaufnahme von Waffenexporten und möglicher Ausweisungen beunruhigt.

In der Kritik stehen zudem als vage und unkonkret empfundene Formulierungen in dem Memorandum. Kritikerinnen und Kritikern zufolge können heikle Punkte wie die Abschiebungen verschieden ausgelegt werden.

Vonseiten der NATO und deren Mitglieder kamen nach der Vereinbarung positive Signale. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte das Memorandum und zeigte sich zuversichtlich, einen baldigen Beitritt Finnlands und Schwedens erreichen zu können. Auch die drei Vertragspartner hoben die Bedeutung des Abkommens hervor.

Die Reaktionen in weiteren NATO-Staaten fielen ebenfalls positiv aus. US-Präsident Joe Biden gratulierte den drei Staaten zu einem entscheidenden Schritt in Richtung NATO-Beitritt. Die deutsche Bundesregierung zeigte sich überzeugt, dass die Beitritte beider Länder zur "Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum" beitragen werde.

Für andere Beobachter steht bei der Bewertung der NATO-Norderweiterung die Bedrohung durch den russischen Angriffskrieg im Vordergrund. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte Anfang Juli, dass durch den Beitritt eben jene Friedensordnung und Sicherheitsarchitektur in Europa gestärkt werde, die Russlands Präsident Putin mit seinem brutalen Angriffskrieg zerstören wolle.

Russland selbst verurteilte die Ausweitungsbestrebungen der NATO als einen "destabilisierenden Faktor", der eine aggressive Interner Link: Containment-Politik gegenüber Russland zeige.

Erste Abschiebung geplant

Noch in seiner Abschlusserklärung zum NATO-Gipfel in Madrid Ende Juni 2022 hatte Erdoğan die Auslieferung von 73 Personen aus Schweden und Finnland gefordert, die kurdischen Organisationen oder der Gülen-Bewegung nahe stünden.

Mitte August wurde dann bekannt, dass Schweden erstmals nach Abschluss des Memorandums eine Auslieferung in die Türkei plant. Bei dem Gefangenen handelt es sich um einen türkischen Staatsbürger, der wegen Betrugsdelikten verurteilt wurde und bereits seit Dezember 2021 in Abschiebehaft sitzt. Die schwedische Regierung sieht darin eine "Routineangelegenheit". Der Mann selbst sagt, dass er wegen seines Übertritts zum Christentum durch die türkischen Behörden verfolgt werde und dass seine Verurteilung darauf zurückzuführen sei. Er ist mit einer Schwedin verheiratet und genoss daher seit 2016 ein Bleiberecht in Schweden.

Die Türkei betonte, dass die Ankündigung dieser Auslieferung nicht weit genug ginge. Laut türkischem Justizminister brauche es mehr zur Erfüllung des Abkommens als "gewöhnliche Kriminelle" an die Türkei auszuliefern.

Wie geht es weiter?

Bisher hat die Türkei der NATO-Norderweiterung noch nicht offiziell zugestimmt. Ende August trafen sich Vertreter aus Finnland, Schweden und der Türkei in Helsinki, um Streitpunkte aus dem Weg zu räumen. Das finnische Außenministerium teilte im Anschluss mit, dass weitere Schritte zur Umsetzung des Memorandums besprochen wurden. Im Herbst solle das nächste trilaterale Treffen stattfinden.

Die offiziellen Beitrittsprotokolle Finnlands und Schwedens müssen von jedem NATO- Mitglied in ihrem nationalen Verfahren anerkannt werden. Externer Link: 24 NATO-Staaten haben den Beitritt bereits ratifiziert. Die Ratifizierung von sechs Staaten, darunter Spanien, Griechenland und die Türkei, steht noch aus (Stand: 06.09.2022).

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