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28. April 1958: Beginn Ulmer Einsatzgruppen-Prozess | Hintergrund aktuell | bpb.de

28. April 1958: Beginn Ulmer Einsatzgruppen-Prozess

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Der Prozess gegen zehn Angehörige der „Einsatzgruppe Tilsit“ im April 1958 verhandelte den Mord an über 5.500 Menschen im deutsch-litauischen Grenzgebiet 1941 – ein Schlüsselereignis für die bundesdeutsche NS-Aufarbeitung.

Die Angeklagten (v.l.n.r.) Bernhard Fischer-Schweder, der Litauer Pranas Lukys alias Jakys und Harm Willms Harms am ersten Tag des Ulmer Einsatzgruppenprozesses auf der Anklagebank vor dem Schwurgericht Ulm am 28. April 1958. (© picture-alliance, dpa | Duerkop)

Beim Ulmer Prozess von 1958 saßen zehn Mitglieder der „Einsatzgruppe Tilsit“ auf der Anklagebank des Landgerichts. Einsatzgruppen wurden vom NS-Regime gezielt für die Vernichtungspolitik im Schatten der Wehrmacht eingesetzt.

Einsatzgruppen des NS-Regimes

Für die Expansionspläne des NS-Regimes ließen Heinrich Himmler, Reichsführer SS, und Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes (SD) bereits vor Beginn des Interner Link: Zweiten Weltkrieges sogenannte Interner Link: Einsatzgruppen aufstellen. Die Einsatzgruppen bestanden aus Interner Link: Mitgliedern des Sicherheitsdienstes sowie der Sicherheitspolizei (Gestapo und Kriminalpolizei), der Ordnungspolizei (Schutzpolizei), Einheiten der Wehrmacht und Brigaden der Waffen-SS. Bei dem geplanten Interner Link: Überfall auf Polen und die Interner Link: Sowjetunion rückten diese Tötungskommandos den Interner Link: Wehrmachtseinheiten nach und vollstreckten – teilweise unter Zuhilfenahme örtlicher Kollaborateure – die nationalsozialistische, rassenideologische Interner Link: Vernichtungspolitik. Die Mordaktionen waren eine Vorstufe für den industriell organisierten Interner Link: Massenmord in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Opfer der Mordaktionen der Einsatzgruppen waren Interner Link: jüdische Menschen, Interner Link: Sinti und Roma, Interner Link: Kriegsgefangene, psychisch Beeinträchtigte, politische Gegner und andere vom NS-Regime als Feinde eingestufte Personen – Männer, Frauen und Kinder.

In Polen waren die Einsatzgruppen verantwortlich für den Mord an weit über 50.000 Menschen. Auch während des deutschen Balkan-Feldzuges mordeten Einsatzgruppen im Rücken der Wehrmachtseinheiten. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erreichten die Verbrechen der Einsatzgruppen ein noch verheerenderes Ausmaß. Weite Teile der Zivilbevölkerung und der gegnerischen Truppen fielen den willkürlichen Exekutionen der Besatzer zum Opfer. Insgesamt ermordeten die mobilen Einsatzkommandos in der Sowjetunion etwa 700.000 Menschen, weit überwiegend jüdische Menschen.

Das Einsatzkommando Tilsit, welches der Einsatzgruppe A angehörte, ermordete nach eigenen Angaben in den ersten drei Kriegsmonaten 5.502 Menschen – meist jüdische Kinder, Frauen und Männer, aber auch Kriegsgefangene und Menschen, die als Kommunisten verdächtigt wurden. Die Orte der Verbrechen: Städte und Dörfer im deutsch-litauischen Grenzstreifen, u.a. Augustów (Augustowo), Darbėnai (Darbenai), Gargždai (Garsden), Jurbarkas (Georgenburg), Kretinga (Krottingen), Marijampolė (Mariampol), Palanga (Polangen) und Tauragė (Tauroggen). Die grausame Bilanz: Zwischen dem 24. Juni und Mitte September 1941 tötete allein das Einsatzkommando Tilsit schätzungsweise fünf- bis sechstausend Menschen. Insgesamt ermordeten Einsatzgruppen in der Sowjetunion mehr als eine halbe Million Menschen – allein mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden beim Interner Link: Massaker von Babyn Jar in Kyjiw.

Schlussstrich unter den Nationalsozialismus

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs Interner Link: verfolgten zunächst die alliierten Besatzungsmächte die Kriegsverbrechen des NS-Regimes. Schon bald gerieten die Strafverfahren dabei in den unterschiedlichen Besatzungszonen bzw. später in beiden deutschen Staaten in das Spannungsverhältnis des Kalten Krieges.

Die Interner Link: DDR sah sich selbst als antifaschistischen Staat und initiierte öffentliche Kampagnen gegen westliche Funktionsträger, die vor 1945 für das NS-Regime tätig gewesen waren: so zum Beispiel mit der Interner Link: „Blutrichter“-Kampagne von 1957, die sich gegen den damaligen Bundesminister Theodor Oberländer und Kanzleramtschef Hans Globke richtete – Skandale, die die Halbherzigkeit deutlich werden ließen, mit der die junge Bundesrepublik NS-Verbrechen verfolgte. Später versuchte die DDR mit den Interner Link: „Braunbüchern“ über „Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und Westberlin“ wunde Punkte der Bonner Regierung zu treffen und diskreditierte u.a. die zahlreichen Interner Link: belasteten Juristen im Justizdienst der Bundesrepublik.

In der Interner Link: Bundesrepublik gab es in den ersten Jahren nach ihrer Gründung einerseits Befürworter der juristischen Aufarbeitung, beispielsweise in den Reihen führender Sozialdemokraten, andererseits ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einem Schlussstrich unter der Zeit der NS-Diktatur: Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte sich beispielsweise mit dem Externer Link: Straffreiheitsgesetz von 1949 dafür ein, Mitläufer in die Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Bis zu 1.500 rechtskräftig verurteilte NS-Täter kamen frei, in 1.785 Fällen wurden Verfahren vor Anklageerhebung eingestellt. Systematisch ermittelt oder gar angeklagt wurde nicht, die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen war Mitte der 1950er Jahren fast zum Erliegen gekommen.

Zitat

„Die meisten NS-Verbrechen wurden in den unmittelbaren Nachkriegsjahren von 1945 bis 1949 geahndet, 4.419 Fälle vor Gerichten der westlichen Besatzungszonen und 8.059 in der sowjetischen Besatzungszone. Mitte der 50er Jahre ging dann die Anzahl der Strafverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen stark zurück: In den westlichen Besatzungszonen bzw. der gerade gegründeten Bundesrepublik hatte es 1949 noch 3.346 Strafverfahren gegen NS-Täter und 1.474 Verurteilungen gegeben. 1955 waren es nur noch 276 Verfahren und 15 Verurteilungen. In der DDR gab es eine ähnliche Entwicklung: Während 1950 noch über 4.000 Urteile in NS-Verfahren gefällt wurden, sank die Zahl 1951 auf 331 und erreichte 1956 den tiefsten Stand. Zwischen 1951 und 1956 wurden dort insgesamt 641 Personen verurteilt.“

Vor dem Ulmer Prozess hatte es in der Bundesrepublik nur zwei Verfahren wegen Einsatzgruppenverbrechen gegeben (1950 und 1957). Nach jahrelanger Untätigkeit der deutschen Strafjustiz war das Verfahren in Ulm nun das erste größere Verfahren zum Tatkomplex der Einsatzgruppen in Osteuropa. Im Unterschied zu den Prozessen der Alliierten fand der Ulmer Einsatzgruppenprozess vor einem deutschen Gericht und auf Initiative deutscher Staatsanwälte statt – ein wichtiger Impuls für die weitere bundesdeutsche Aufarbeitung. Nicht zuletzt durch die breite öffentliche Berichterstattung wurden die bisherigen Versäumnisse der Strafverfolgung deutlich, und es zeigte sich, dass weiterhin zahlreiche NS-Verbrecher straffrei in der Bundesrepublik lebten. Damit gilt das Ulmer Verfahren auch als einer der wichtigen Vorläuferprozesse des darauffolgenden – maßgeblich vom hessischen Staatsanwalt Interner Link: Fritz Bauer initiierten – Interner Link: Frankfurter Auschwitzprozesses.

Ein ehemaliger SS-Offizier als Leiter eines Flüchtlingslagers

Beim Ulmer Verfahren hatte einer der Hauptangeklagten selbst großen Anteil daran, dass die Justiz zufällig auf die Verbrechen des Einsatzkommandos Tilsit aufmerksam wurde. Der ehemalige SS-Oberführer Bernhard Fischer-Schweder, während des Krieges Kommandeur des Einsatzkommandos Tilsit und Polizeidirektor von Memel, hatte sich im amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Bayern unter falschen Angaben in seinem Entnazifizierungsverfahren das Spruchkammerurteil „nicht betroffen“ erschlichen und nannte sich fortan „Bernd Fischer“. 1954 wurde er Leiter eines Flüchtlingslagers in Wilhelmsburg bei Ulm. Um wieder in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden zu können, musste er seine Identität preisgeben und sein echtes Geburtsdatum nachreichen. Als seine Vorgesetzten während einer Routineprüfung von dessen SS-Vergangenheit erfuhren, wurde Fischer-Schweder nahegelegt, aus eigenen Stücken das Arbeitsverhältnis zu beenden, um großes Aufsehen zu vermeiden. Zunächst willigte Fischer-Schweder ein, überlegte es sich jedoch kurz darauf anders und klagte schließlich vor dem Arbeitsgericht auf Wiedereinstellung.

Über den Fall wurde damals in verschiedenen Medien berichtet. Fischer-Schweder schrieb daraufhin einen Leserbrief an die „Ulmer Nachrichten“, in dem er sich als ein Staatsdiener und „Freund der Juden und Polen“ ausgab, der diese während des Krieges vor Leid und Todesgefahr bewahrt habe. Ein Leser dieses im Mai 1955 veröffentlichten Briefes hatte unter Fischer-Schweder im litauischen Memel (heute: Klaipėda) gedient. Dieser Mann beschuldigte Fischer-Schwedler nun, keineswegs unbescholten gewesen zu sein – sondern vielmehr den Befehl zum tausendfachen Mord gegeben zu haben. Die Staatsanwaltschaft nahm ihre Ermittlungen auf.

3 Jahre Vorbereitung, über 180 Zeugen, 60 Prozesstage

Am 28. April 1958 wurde der Prozess gegen Fischer-Schweder und neun weitere Angeklagte eröffnet, darunter auch Hans-Joachim Böhme, 1940 Regierungsrat, SS-Sturmbannführer und Chef der Staatspolizeistelle in Tilsit und Werner Hersmann, Führer des SD-Abschnitts in Tilsit. Ihnen wurde die Beteiligung an den Morden der Einsatzgruppe A in Litauen im Sommer 1941 zur Last gelegt. In 60 Verhandlungstagen wurden Beweise gesichtet und über 180 Zeuginnen und Zeugen vernommen, darunter auch ranghohe SS-Mitglieder. Die Herausforderungen dabei: viele Zeuginnen und Zeugen hatten nur geringes Vertrauen in die neuen deutschen Behörden, wollten sich selbst nicht strafbar machen oder der Rechtshilfeverkehr wurde durch den Kalten Krieg erschwert. Zentrale Beweisstücke für die Anklage waren die „Ereignismeldungen UdSSR“, in denen die Einsatzgruppen ihre Mordstatistiken an das Reichssicherheitshauptamt nach Berlin gemeldet hatten.

Zeugenaussagen

Im Rahmen des Prozesses wurde am 10. Juli die 67-jährige litauische Augenzeugin Ona Rudaitis gehört, die detailliert über ein Massaker an jüdischen Frauen und Kindern bei Virbalis (Wirballen) berichtete. Die Zeugin konnte nach langen Recherchen der Staatsanwaltschaft in Zusammenarbeit mit der Stuttgarter jüdischen Gemeinde ausfindig gemacht werden. Mit ihrem genauen Erinnerungsvermögen konnte sie Falschaussagen der Angeklagten widerlegen. Am 16. Juni 1958 schilderte Fanny Pitum als Zeugin die Verfolgung und Ermordung ihrer Familie in Polangen und Kaunas.

Verurteilung wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord

Vier Monate später, am 29. August 1958, wurde das Urteil verkündet:

Hans-Joachim Böhme und Werner Hersmann wurden wegen „gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ zu 15 Jahren Haft verurteilt. Beiden konnte die Beteiligung an tausenden Tötungsdelikten nachgewiesen werden. Bernhard Fischer-Schweder wurde wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 526 Fällen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Strafmaß der anderen Beschuldigten lag bei drei bis sieben Jahren. Im Verlauf der 1960er Jahre waren zwei der Beschuldigten verstorben und die meisten Angeklagten wieder auf freiem Fuß. Ihnen wurde die Untersuchungshaft zugerechnet, das Strafmaß nach Revision reduziert oder sie wurden zum Teil vorzeitig entlassen. Keiner der zehn Angeklagten war wegen Mordes verurteilt worden. Es war den Anklägern nicht gelungen, die Verbrechen des „Einsatzkommandos Tilsit“ als Ganzes strafrechtlich zu ahnden. Obwohl der Ulmer Prozess als Meilenstein in der Aufarbeitung von NS-Verbrechen gilt, wurde gleichzeitig eine sehr problematische Rechtsprechung etabliert, die sogenannte Gehilfenrechtsprechung: Die eigentlichen Täter, die selbst töteten oder die Befehle dazu gaben, waren dieser Sichtweise entsprechend nur Erfüllungsgehilfen eines verbrecherischen Regimes.

Urteile

  • Hans-Joachim Böhme in 3.907 Fällen 15 Jahre Zuchthausstrafe und 10 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Werner Hersmann in 1.656 Fällen 15 Jahre Zuchthausstrafe und 10 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Bernhard Fischer-Schweder in 526 Fällen 10 Jahre Zuchthausstrafe und 7 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Pranas Lukys in 315 Fällen 7 Jahre Zuchthausstrafe und 5 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Werner Kreuzmann in 415 Fällen 5 Jahre Zuchthausstrafe und 4 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Harm Willms Harms in 526 Fällen 3 Jahre Zuchthausstrafe und 2 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Franz Behrendt in 1.127 Fällen 5 Jahre, 3 Monate Zuchthausstrafe und 3 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Gerhard Carsten in 423 Fällen 4 Jahre Zuchthausstrafe und 3 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Edwin Sakuth in 526 Fällen 3 Jahre, 6 Monate Zuchthausstrafe und 2 Jahre Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte

  • Werner Schmidt-Hammer in 526 Fällen 3 Jahre Zuchthausstrafe

Quelle: Landgericht Ulm, Urteil vom 29. August 1958, Ks 2/57

Bundesdeutsche Justiz unter Zugzwang

Der Ulmer Einsatzkommando-Prozess brachte die deutsche Justiz mit ihrer unsystematischen Strafverfolgung unter Handlungsdruck und förderte darüber hinaus Hinweise für weitere Taten ans Licht. Eineinhalb Monate nach Prozessende beschlossen daher die Justizminister der Bundesländer die Gründung der „Zentrale Stelle der Justizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ in Ludwigsburg. Für eine systematische Aufarbeitung des NS-Unrechts gab es jedoch nach wie vor keinen breiten Konsens, und die – weite Teile der Bevölkerung entlastende – Gehilfenrechtsprechung verfestigte sich weiter.

Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen

Hintergrund

Die Externer Link: „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg wurde durch Externer Link: eine Verwaltungsvereinbarung der Justizminister und -senatoren vom 6. November 1958 als gemeinschaftliche Einrichtung der damaligen Bundesländer errichtet. Beim Verfahren gegen die Angehörigen des Einsatzkommandos Tilsit im Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 hatte sich gezeigt, dass zu den Verbrechenskomplexen im Nationalsozialismus große Defizite bei der Aufklärung und Ahndung bestanden. Damit stieg der innen- und außenpolitische Druck, systematischere Ermittlungen anzustellen.

Zuständigkeiten und Aufgaben

Am 1. Dezember 1958 nahm die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. Erster Leiter der Institution wurde Erwin Schüle, Staatsanwalt beim Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, der jedoch schon 1966 wegen seiner eigenen – von der DDR enthüllten – belastende NS-Vergangenheit zurücktreten musste. Die zentralen Aufgaben der Einrichtung waren es, Beweismaterialien zu sammeln, Vorermittlungen zu führen, Beschuldigte ausfindig zu machen und weitere Prozesse gegen NS-Verbrechen vorzubereiten. Das stellte ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte dar: Erstmals wurde eine zentrale staatsanwaltliche Ermittlungseinrichtung für NS-Verbrechen geschaffen. Zunächst waren die Kompetenzen der Zentralen Stelle eingeschränkt: Sie war nur für NS-Verbrechen zuständig, deren Tatorte außerhalb des Bundesgebietes lagen und die im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen gegenüber der Zivilbevölkerung (jedoch ohne die eigentlichen Kriegshandlungen) begangen worden waren. Erst Mitte der 1960er Jahre wurden mit den Beschlüssen der Justizminister und Justizsenatoren der Länder vom 22. November 1964 und vom 27./28. April 1966 die Befugnisse der Zentralen Stelle erheblich erweitert. Sie konnte nun Verbrechen aufzuklären, die sich im Bundesgebiet selbst ereignet hatten, konnte Vorermittlungen gegen Angehörige der obersten Reichsbehörden, der obersten Parteidienststellen sowie der Lagermannschaften der im Bundesgebiet gelegenen Konzentrationslager führen. Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen fielen ebenfalls in den Aufgabenbereich der Zentralen Stelle. Durch eine Erweiterung der bestehenden Vereinbarung am 13. Juni 1995 traten die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie der Freistaat Sachsen der Verwaltungsvereinbarung mit Wirkung vom 1. Januar 1995 bei. Die Aufgaben, die bislang einheitlich von der Zentralen Stelle erfüllt worden waren, werden seit April 2000 arbeitsteilig von der Zentralen Stelle und vom Bundesarchiv wahrgenommen. Die Justizminister und Justizsenatoren der Länder stimmten auf ihrer Konferenz am 17./18. Juni 2015 überein, dass die Zentrale Stelle in ihrer bisherigen Form weitergeführt werden soll, solange Strafverfolgungsaufgaben anfallen. Nach einem derzeit nicht absehbaren Ende der Ermittlungstätigkeit soll die Behörde auch bei geänderter Nutzungskonzeption Interner Link: als Ort des Gedenkens, der Mahnung, der Aufklärung und der Forschung etwa in Form eines Dokumentations-, Forschungs- und Informationszentrums aufrecht erhalten bleiben.

Bilanz

Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle 7.694 Vorermittlungen geführt. Die Verfahren wurden meist dadurch abgeschlossen, dass die Behörde sie an die zuständigen Staatsanwaltschaften abgegeben hat – in vielen Fällen waren es Sammelverfahren mit einer großen Zahl von Beschuldigten und/oder einer Vielzahl von Straftaten. Insgesamt sind in der Bundesrepublik Deutschland seit 1958 18.688 Verfahren wegen NS-Verbrechen bei Staatsanwaltschaften und Gerichten anhängig geworden. Soweit diese nicht durch die Zentrale Stelle eingeleitet wurden, hatten sie doch zumeist mittelbar einen Zusammenhang mit deren Tätigkeit. Die Zentrale Stelle selbst besaß zu keinem Zeitpunkt eigenständige staatsanwaltschaftliche Ermittlungsbefugnisse und damit einhergehend keinerlei Weisungsbefugnis. Die Ludwigsburger Ermittlerinnen und Ermittler konnten zwar im In- und Ausland Beweise sammeln, nicht aber selbstständig Verhöre führen, Zeuginnen und Zeugen vernehmen oder gar Verdächtige festnehmen. Die Institution spiegelte seit ihrer Gründung immer wieder die Debatten und politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der NS-Strafverfolgung und -Aufarbeitung wider. Kritische Stimmen bemängeln bis heute, dass die Behörde nicht die notwendige Effektivität erreichte, die angesichts der Fülle an Beweisen und noch lebender Zeitzeugen möglich gewesen wäre.

In Westdeutschland war die Interner Link: Verjährung von Verbrechen eines der größten Hindernisse bei der juristischen Aufarbeitung von NS-Kriegsverbrechen. Noch Anfang der 1960er-Jahre verjährten Morde beispielsweise 20 Jahre nach der Tat und konnten dann nicht mehr strafrechtlich geahndet werden. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde heftig über die Verjährung debattiert. Schrittweise wurden die Fristen verändert, um weiterhin NS-Verbrechen juristisch verfolgen zu können. Im Jahr 1979 Interner Link: beschloss der Bundestag dann, dass Mord grundsätzlich nicht verjähren sollte.

Ein weiterer Konflikt bestand ab den 1960er-Jahren darin, auf welcher rechtlichen Grundlage NS-Täter verurteilt werden sollten. Lange bestand die Auffassung, dass Funktionsträger des NS-Regimes nur für Morde verurteilt werden konnten, die sie selbst begangen oder konkret befohlen hatten. Viele Mitläufer, die das industrialisierte und arbeitsteilige Morden in den Vernichtungslagern erst möglich machten, gingen daher straffrei aus, sofern sie selbst keinen Mord begangen hatten. Rechtlich abgesichert wurde diese Praxis mit dem sogenannten Interner Link: „Dreher-Gesetz“ von 1968. Eine Wende brachte hier erst das Jahr 2011, als der KZ-Wachmann Interner Link: John Demjanjuk zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Das Gericht sah ihn „als Teil der Tötungsmaschinerie“.

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