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Nato: Rückblick auf ein Dreivierteljahrhundert | bpb.de

Nato: Rückblick auf ein Dreivierteljahrhundert

Karl-Heinz Kamp

/ 16 Minuten zu lesen

Die 75-jährige Geschichte der Nato ist geprägt durch ständige Anpassung an ein sicherheitspolitisches Umfeld im Wandel. Die Bedrohung durch Russland und verschiedene Herausforderungen im asiatisch-pazifischen Raum werden ihre zukünftige Entwicklung beeinflussen.

Die so oft totgesagte Nordatlantische Allianz präsentiert sich zu ihrem bald 75. Jubiläum in erstaunlich guter Verfassung, auch wenn die Tragödie des Kriegs gegen die Ukraine keine rechte Feierstimmung aufkommen lassen will. Das Prädikat des erfolgreichsten politisch-militärischen Bündnisses der neueren Geschichte ist nicht übertrieben, hat die Nato doch durch ständige Anpassung an neue sicherheitspolitische Anforderungen auf die Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte reagiert und stets ihre eigene Relevanz bewahrt. Sie hat zum Ende des Ost-West-Konflikts ebenso beigetragen wie zum Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs. Als diese 2014 von einem revanchistischen Russland mit der Annexion der Krim eingerissen wurde, schwenkte die Nato auf ihre klassische Rolle als Verteidigungsallianz um, nicht ahnend allerdings, dass sie acht Jahre später mit einem russischen Angriffskrieg an ihrer Ostgrenze konfrontiert sein würde. Mit Moskaus Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 fand das Bündnis endgültig zu seiner ursprünglichen Funktion als Garant der Sicherheit und territorialen Integrität ihrer Mitglieder gerade in Osteuropa zurück. Selbst wenn derzeit nicht absehbar ist, wann und mit welchen Ergebnissen Wladimir Putins brutaler Krieg gegen die Ukraine enden wird, so wird die Einhegung eines aggressiven Russlands eine zentrale Zukunftsaufgabe des Bündnisses bleiben. Darüber hinaus zeichnen sich bereits neue sicherheitspolitische Gefahren vor allem im asiatisch-pazifischen Raum ab, die eine handlungsfähige und geeinte Nordatlantische Allianz erfordern.

Eine erfolgreiche Allianz

Bis zum "Wendejahr" 2014 haben Beobachter der Nato die Geschichte der Allianz gerne in drei Phasen eingeteilt. In einer ersten Phase, die von ihrer Gründung 1949 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 reichte, entwickelte sich das Bündnis vor allem zu einem Instrument westlicher Selbstbestimmung und Verteidigung. War sie bei ihrer Gründung noch ein loser Staatenbund ohne feste Strukturen und Gremien, so wurde 1951 das Amt des militärischen Oberbefehlshabers geschaffen (Supreme Allied Commander Europe – SACEUR) und 1952 die Position des Nato-Generalsekretärs. Die akute Bedrohung durch die Sowjetunion machte auch bald die Aufnahme (West-)Deutschlands in die Nato erforderlich, obgleich es erhebliche Vorbehalte gegen die gerade erst aus den Ruinen des "Dritten Reichs" auferstandenen Bundesrepublik gab. Sie wurde aufgrund ihrer geostrategischen Lage zwischen Ost und West sogleich zum potenziellen Schlachtfeld einer militärischen Auseinandersetzung und entsprechend ausgerüstet. Streitkräfte aus Belgien, Dänemark, den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den USA wurden entlang der innerdeutschen Grenze positioniert. Dies sollte nicht nur eine militärische Verteidigungsfähigkeit sichern, sondern war auch ein politisches Zeichen der Bündnissolidarität, wären doch im Falle eines sowjetischen Angriffs eine ganze Reihe von Nato-Mitgliedern von Anfang an in die Kampfhandlungen involviert gewesen.

Gleichzeitig stationierten die USA zahlreiche Kernwaffen auf westdeutschem Boden, um der Idee der nuklearen Abschreckung Glaubwürdigkeit zu verleihen. Damit war die Nato anfangs vor allem eine militärische und auch eine nukleare Allianz, die aber mit dem zivilen Generalsekretär an der Spitze über eine klare politische Führung verfügte. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass eine der größten internen Krisen der Nato in dieser Phase, nämlich der Streit um die Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen in Europa Anfang der 1980er Jahre, eine nukleare Krise war.

Der Mauerfall im November 1989 beendete diese erste Phase und warf sogleich die Frage auf, ob ein politisch-militärisches Bündnis fortbestehen könne, dessen ursprüngliche Begründung, nämlich die Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten, weggefallen war.

Diese Frage beantwortete sich aber von selbst, wurde das Ende des Kalten Kriegs doch rasch von zwei politischen Entwicklungen überlagert: zum einen die Krisen auf dem Balkan, die durch den Zerfall Jugoslawiens hervorgerufen wurden, und zum anderen das Drängen der neuen Demokratien in Osteuropa auf eine Einbeziehung in transatlantische Sicherheitsstrukturen, um nicht in einem sicherheitspolitischen Niemandsland zwischen Russland und der Nato zu enden. Beide Entwicklungen stellten die Nato vor die Herausforderung, zu einem Europa "whole and free and at peace" beizutragen, so wie es der US-Präsident George H.W. Bush vor dem Mauerfall im Mai 1989 skizziert hatte.

Die Eruption von Bürgerkrieg und ethnischer Gewalt auf dem Balkan traf die meisten Nato-Staaten weitgehend unvorbereitet. Gerade für die Streitkräfte der europäischen Bündnismitglieder – mit Ausnahme Frankreichs und des Vereinigten Königreichs – galt nach wie vor die Losung, dass der "Ernstfall der Frieden" sei und dass der Zweck des Militärs vor allem in der Abschreckung und damit in der eigenen physischen Präsenz liege. Ein realer Einsatz von Streitkräften war bislang eine theoretische Option gewesen, die es angesichts der nuklearen Vernichtungspotenziale in Ost und West in jedem Fall zu verhindern galt. Auch versteckten sich Länder wie Deutschland gern hinter der (falschen) Behauptung, dass der Nato-Vertrag ohnehin keine militärischen Operationen out of area, also außerhalb der Bündnisgrenzen, erlauben würde. Diese zögerliche Haltung ließ sich aber angesichts der zunehmenden Gewalt in Südosteuropa nicht durchhalten, und die Nato entsandte Ende 1995 unter dem Kürzel IFOR (Implementation Force) eine gemeinsame Streitmacht nach Bosnien und Herzegowina, um das ausgehandelte Friedensabkommen von Dayton zu überwachen.

Vier Jahre später ging die Allianz über das rein militärische Krisenmanagement hinaus und führte ab März 1999 einen Krieg gegen Serbien, um die Gewalt im Kosovo zu beenden. Bemerkenswert war, dass die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg unter einer Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zustande kam, zwei Parteien, die einer Anwendung militärischer Gewalt überaus kritisch gegenüberstanden und sich nur unter Schmerzen zur Kriegsteilnahme durchringen konnten. Glücklicherweise endete der Krieg nach 78 Tagen mit der Kapitulation Serbiens, war es doch äußerst fraglich, wie lange die Nato noch den inneren Zusammenhalt zu einer Fortsetzung der Kämpfe aufgebracht hätte. Bis heute sind etwa 3.800 Soldatinnen und Soldaten im Rahmen der Nato Kosovo Force (KFOR) in der Region stationiert, um ein Wiederaufflammen der Konflikte zwischen den Ethnien zu verhindern.

Wesentlich weniger kontrovers gestaltete sich die Reaktion der Nato auf die zweite politische Notwendigkeit, nämlich die politische Transformation der Mitglieder des untergangenen Warschauer Pakts zu unterstützen und den demokratischen Staaten unter ihnen eine transatlantische Perspektive zu bieten. Dabei galt es, die Sicherheitsinteressen Russlands ebenso in Betracht zu ziehen, wie auch ein politisches Machtvakuum zwischen Russland und den Ostgrenzen der Nato zu vermeiden. Der 1988 ins Amt gekommene Nato-Generalsekretär und ehemalige deutsche Verteidigungsminister Manfred Wörner hatte diese Notwendigkeit als einer der ersten erkannt und im Bündnis vorangetrieben. Für ihn war die Nato die "Midwife of Change", die Geburtshelferin des Wandels, die in der Stabilisierung Ost- und Mitteleuropas eine geradezu historische Aufgabe hatte.

Allerdings vollzog sich dieser Prozess nicht ohne allianzinterne Debatten. Der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe sprach sich bereits 1993 für die Aufnahme osteuropäischer Staaten aus – vor allem Polen, Ungarn und die Tschechische Republik. Damit stieß er aber anfangs nicht nur in London und Paris, sondern auch in Washington auf Kritik, wo man versuchte, russische Sorgen vor einem möglichen Ausgreifen der Nato in Richtung Osten zu zerstreuen. Deshalb dauerte es bis 1999, bis die ersten Neumitglieder aufgenommen wurden. Um die Zustimmung Moskaus zu erhalten, wurde 1997 eine sogenannte Grundakte zwischen Russland und der Nato unterzeichnet und gleichzeitig ein ständiger Nato-Russland Rat eingerichtet. Alle drei Schritte, die Zustimmung Moskaus, das Nato-Russland-Dokument und der Ständige Rat widerlegen die heute oft geäußerte Behauptung, die Nato habe mit der Aufnahme neuer Mitglieder die Sicherheitsinteressen Moskaus verletzt.

Wenige Jahre später folgten in einer weiteren Erweiterungsrunde die drei baltischen Staaten sowie Bulgarien, Rumänien, Slowenien und die Slowakei. Parallel zur Aufnahme neuer Mitglieder etablierte die Nato enge Partnerschaften mit den Ländern, die nicht dem Bündnis beitreten konnten oder wollten, um die euro-atlantische Sicherheitszone auf eine möglichst breite Basis zu stellen.

Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York begann die dritte Phase der Nato, in der sich die Allianz zu einem globalen Sicherheitsakteur entwickelte, der sich um die Stabilisierung von Krisenregionen fernab der eigenen Bündnisgrenzen bemühte. Dabei veränderte der Terrorangriff von al-Qaida die internationale Sicherheitslandschaft mindestens ebenso stark, wie zwölf Jahre zuvor das Ende des Kalten Kriegs. Das lag nicht allein an den hohen Opferzahlen des brutalen Terroraktes, sondern auch an der dramatischen Erkenntnis in den USA, dass eine kleine Gruppe mit begrenztem Organisationsgrad und noch begrenzteren Ressourcen in der Lage war, die größte Militär- und Wirtschaftsmacht der Welt in eine ernste Krise zu stoßen. Dies veränderte die US-Sicherheitspolitik ebenso wie das Selbstverständnis der Nato in den kommenden eineinhalb Dekaden.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte rief die Allianz den Bündnisfall gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrages aus und verpflichtete alle Mitglieder auf die Solidarität mit dem angegriffenen Staat – den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Folge war eine internationale Militäroperation zum Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan, das den al-Qaida-Attentätern Schutz geboten hatte. Im August 2003 übernahm eine Nato-Schutztruppe (International Security Assistance Force, ISAF) die Führung dieser Operation, mit dem Ziel, Afghanistan zu stabilisieren und tragfähige Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Anfangs widmete sich die Nato mit großer Euphorie dieser Aufgabe, sah sie sich doch zunehmend als globaler Sicherheitsakteur, der mögliche Gefährdungen weitab der eigenen Grenzen bekämpft. Emblematisch dafür wurde der Ausspruch des damaligen deutschen Verteidigungsministers Peter Struck, dass "die deutsche Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt" werde.

Es zeigte sich aber bald, wie schwierig die Umsetzung des Gedankens von Stabilitätsexport und Demokratisierung über weite Distanzen in Weltregionen ist, deren Gesellschaften von Stammesstrukturen geprägt sind und mit den vermeintlich segensreichen "westlichen" Lebensmodellen nur wenig anfangen können oder wollen. Die Idee des Krisenmanagements durch Stabilitätsexport hielt sich noch eine Weile und so wundert es nur wenig, dass die Nato 2011 militärisch in Libyen eingriff, um das Regime des Diktators Muammar al-Gaddafi an einem Massenmord an der eigenen Bevölkerung zu hindern. Auch hier zeigten sich die Grenzen des militärischen Krisenmanagements. Obgleich die Operationen der Nato erfolgreich waren und letztlich zum Sturz des Gaddafi-Regimes beitrugen, konnte eine nachhaltige Stabilisierung des Landes nicht erreicht werden. Die libysche Bevölkerung und die Mächte in der Region, die anfangs das Eingreifen der Nato euphorisch begrüßt hatten, wandten sich bald ab und zerfielen in verschiedene Lager. Das Resultat ist ein bis heute andauernder Bürgerkrieg, in dem rivalisierende Gruppen von unterschiedlichen Staaten unterstützt werden.

Das vierte Zeitalter der Nato

Folgt man der Einteilung der Nato-Geschichte in Phasen, dann befindet sich das Bündnis derzeit in Phase vier, die mit Russlands Annexion der Krim 2014 begann und mit Moskaus Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 vollends zum Tragen kam. Hatte sich die Allianz zuvor mit politischer und militärischer Transformation oder mit militärischem Krisenmanagement befasst, so rückte ab 2014 wieder die Landes- und Bündnisverteidigung als Daseinszweck in den Vordergrund. Die Nordatlantische Allianz befand sich wieder in der Artikel-5-Welt, in einem sicherheitspolitischen Umfeld, in dem das Sicherheitsversprechen mit glaubwürdigen militärischen Fähigkeiten untermauert sein muss.

Nach Russlands Besetzung der Krim reagierte die Nato rasch auf die russische Aggressionspolitik. Mit den Entscheidungen der Nato-Gipfeltreffen in Wales 2014 und Warschau 2016 stellte sich das Bündnis auf die neuen Erfordernisse ein und erhöhte die Schlagkraft ihrer militärischen Fähigkeiten. Die bereits 2002 aufgestellte Krisenreaktions-Streitmacht (Nato-Response-Force, NRF) wurde auf fast 40.000 Soldaten erweitert und um eine 5.000 Mann starke Schnelle Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force) ergänzt. Diese Task Force ist in ständiger Bereitschaft und kann in wenigen Tagen in Marsch gesetzt werden. Unter dem Schlagwort Enhanced Forward Presence (EFP) standen seit 2017 vier gefechtsbereite Bataillone in Estland, Lettland, Litauen und Polen zur Verfügung – jedes von einem der vier großen Nato-Mitglieder USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Deutschland bereitgestellt und mit den Truppen der Gastländer koordiniert.

Zusätzlich zu den Truppenstationierungen hatte die Nato die Zahl der militärischen Übungen erhöht und an realistische Szenarien angepasst sowie neue Verteidigungspläne entwickelt. Auch wurden die institutionsinternen Entscheidungsprozesse gestrafft, sodass ein Bündnisbeschluss zum Einsatz der Schnellen Eingreiftruppe innerhalb von acht bis zwölf Stunden möglich wurde.

Selbst bei der nuklearen Abschreckung wurden Verbesserungen erreicht. Dies zeigte sich zunächst in einem neuen nuklearen "Mindset" in allen Nato-Ländern: Man erzielte Einigkeit über die von Russland ausgehende nukleare Gefahr und vergegenwärtigte sich, dass die Nato eine "nukleare Allianz" bleibt. Das war keinesfalls selbstverständlich, waren doch Kernwaffen in den zurückliegenden vier Jahrzehnten ein ständiger Streitpunkt in der Allianz. Auch wurden die Reaktionszeiten der nuklearfähigen Flugzeuge, die im Extremfall die in Europa stationierten amerikanischen Kernwaffen transportieren würden, erheblich verkürzt und in intensiven Übungen immer wieder getestet.

Darüber hinaus kam die Nato dem Drängen der südlichen Mitgliedsländer nach und kümmerte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten um die Sicherheitsgefährdungen aus südlicher und südöstlicher Richtung. Wenn auch der von der Allianz gebrauchte Begriff des "360 Grad Ansatzes" etwas übertrieben schien, so hat die Nato dennoch ihre Präsenz im Schwarzen Meer ausgebaut und Schritte gegenüber der globalen Gefahr des Terrorismus unternommen.

So wichtig all diese Maßnahmen auch waren, so wurden sie von einigen Mitgliedstaaten nur halbherzig betrieben. Eine Erhöhung der Verteidigungshaushalte, die eine Realisierung der ambitionierten militärischen Planungen ermöglicht hätte, blieb in vielen Ländern aus. So verwundert es nicht, dass von den fünf entwickelten Verteidigungsplanungen für unterschiedliche Regionen des Bündnisses Streitkräfte für immer nur jeweils einen vorhanden waren – es hätte also kein zweiter Krisenschauplatz hinzukommen dürfen. Auch störten sich Mitgliedsländer wie Deutschland lange daran, dass in den neuen militärischen Planungen überhaupt Begriffe wie "Krise" oder "Krieg" vorkamen.

Der Tabubruch

Vermutlich war es auch diese Halbherzigkeit, die den russischen Präsidenten Putin zu dem Fehlurteil verleitete, von diesem uneinigen, verweichlichten und wenig verteidigungsbereiten Westen nur wenig befürchten zu müssen und einen brutalen Krieg gegen die Ukraine wagen zu können. Allerdings drehte sich die Stimmung nach Moskaus Angriff am 24. Februar 2022 in fast allen Nato-Staaten grundlegend und führte zu einer sicherheitspolitischen Zeitenwende. Gab sich nach 2014 noch der eine oder andere der Illusion hin, dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Moskau erreicht werden könne, waren diesmal die Gefahren durch ein revanchistisches und gewaltbereites Russland für jeden zu erkennen.

Die Reaktionen der westlichen Demokratien auf den russischen Tabubruch eines unbegründeten Angriffskriegs waren von einer Geschlossenheit, die Moskau mit Sicherheit nicht erwartet hatte. Trotz Russlands unverhohlenen Drohungen, Kernwaffen gegen jene einzusetzen, die der Ukraine beistehen, mobilisierten die Mitglieder der Nato, der EU oder der G7 gewaltige militärische und nicht-militärische Mittel. Selbst Deutschland, oft für seine Zögerlichkeit gescholten, setzte mit der "Zeitenwende" ein Zeichen und entwickelte sich zum zweitgrößten Unterstützer der Ukraine nach den USA.

Dass diese Entwicklung von heftigen politischen Debatten begleitet sein würde, verwundert nicht, wollte die Allianz bei aller Hilfe für die Ukraine doch eine Eskalation des Kriegs auf Nato-Gebiet vermeiden. Deshalb wurde von Anfang an klargestellt, dass es die Mitgliedstaaten des Bündnisses sind, welche die Ukraine mit militärischen Mitteln unterstützen und nicht die Nato als Institution. Aus diesem Grund findet die Koordination der Hilfe für die Ukraine nicht im Nato-Hauptquartier in Brüssel statt, sondern im sogenannten Ramstein-Format: Seit Beginn des Kriegs treffen sich alle Unterstützerstaaten (ob Nato-Mitglieder oder nicht) regelmäßig auf dem US-Stützpunkt in Ramstein, um die Waffenlieferungen für die Ukraine abzusprechen. Gleichzeitig überrascht die öffentliche Unterstützung, welche die Waffenlieferungen an die Ukraine, die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland oder die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge nach wie vor in fast allen Nato-Staaten genießen. Auch hier hat Russland sich verschätzt, weil man wohl von einem raschen Zusammenbrechen der Front der Ukraine-Unterstützer ausgegangen war. Die Nato hat damit ihre Kohäsion und ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ob dies ausreicht, um Russland irgendwann zum Rückzug zu bewegen, ist noch nicht absehbar.

Die deutlichsten Konsequenzen aus dem Krieg gegen die Ukraine gab es – von der Öffentlichkeit nur wenig beachtet – im militärischen Bereich der Nato. Zwar hatte man nach 2014 die Streitkräftepräsenz in Osteuropa erhöht, allerdings handelte es sich dabei um kleinere Einheiten oder militärische Kommandostellen, die der Logik der Abschreckung zufolge als "Stolperdraht" dienen sollten. Würde der Stolperdraht durch einen russischen Angriff ausgelöst, sollten Verstärkungskräfte folgen, um den Angriff zurückzuschlagen. Nach dem Februar 2022 stellte die Nato vollends auf Verteidigung um, das heißt, es sollen – ähnlich wie an der innerdeutschen Grenze im Kalten Krieg – ausreichende militärische Kapazitäten dauerhaft an den Ostgrenzen des Bündnisses stationiert werden, um einer möglichen russischen Aggression von Anfang an standhalten zu können.

Die Umsetzung dieser ambitionierten Pläne soll in den kommenden Jahren erfolgen und wird gewaltige finanzielle Anstrengungen von allen Mitgliedsländern erfordern. Folgerichtig haben sich die Nato-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Vilnius im Juli 2023 darauf verpflichtet, die berühmten "Zwei Prozent", also die Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Brutto-Inlandsprodukts, nicht mehr als Obergrenze, sondern als Mindestbetrag zu betrachten. Ob es den Mitgliedsländern gelingen wird, deutlich höhere Verteidigungsausgaben gegenüber den Kosten etwa für Klimaschutz oder die Bekämpfung illegaler Migration innenpolitisch durchzusetzen, wird sich zeigen.

Künftige Herausforderungen

Auch wenn derzeit noch nicht absehbar ist, wann und zu welchen Bedingungen der Krieg gegen die Ukraine zu Ende gehen wird, so sind die künftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Nato schon vorgezeichnet.

Die vordringliche Bedrohung für die Nato wird Russland bleiben, zumindest solange Wladimir Putin und seine Machtclique in Moskau regieren. Unklar bleibt allerdings, welchem Russland die Nato künftig gegenüberstehen wird. Internationale Sanktionen, erheblich schwindende Einkünfte aus Waffen- und Energieverkäufen und letztlich die Kosten des Kriegs selbst werden einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang Russlands zur Folge haben. Ob sich dieser Niedergang in einem politischen Machtwechsel, in einer womöglich noch aggressiveren Nachfolgeregierung oder einer schrittweisen Desintegration des Staats niederschlagen wird, ist nicht vorhersagbar. Jedes dieser Szenarien wird eine andere Strategie und Politik der Nato erfordern.

Im unmittelbaren Zusammenhang mit der Russland-Frage stehen die Sicherheitsgarantien, welche die Nato und weitere westliche Staaten der Ukraine nach dem Ende der Kampfhandlungen gewähren müssen, um sich einer künftigen russischen Aggression entgegenzustellen. Aus Sicht der Ukraine kann ihre Sicherheit nur durch einen Nato-Beitritt und dem damit verbundenen Schutz der USA gewahrt werden. Dagegen gibt es im Bündnis aber erhebliche Vorbehalte, und es stehen sich letztlich zwei Positionen gegenüber. Gerade osteuropäische Länder wie Polen oder Rumänien fordern einen raschen Beitritt der Ukraine, nicht zuletzt um eine sichere Pufferzone zwischen der eigenen Ostgrenze und Russland zu schaffen. Zudem wird argumentiert, dass die Ukraine mit ihren verlustreichen Kämpfen auch die Freiheit des Westens verteidige und damit die Nato-Mitgliedschaft verdiene. Andere, wie etwa die USA, weisen darauf hin, dass eine Aufnahme der Ukraine letztlich die Fähigkeit erfordere, die Sicherheit der Ukraine an deren Ostgrenze militärisch zu verteidigen. Die Ukraine ist nach Russland der flächenmäßig größte Staat in Europa und ihre Ostgrenze liegt etwa 1.300 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Für eine Nato, die große Mühe hat, ausreichende Kapazitäten für die Verteidigung des bisherigen Bündnisgebiets aufzubauen, wäre dies eine Mammutaufgabe, die erneut mit gewaltigen Kosten verbunden wäre. Welche der beiden Positionen sich letztlich durchsetzt, wird auch davon abhängen, welches Russland man am Ende des Kriegs vorfindet.

Allerdings ist dies nicht die einzige Zukunftsfrage für die Nato. Vor allem die USA warnen ihre Bündnispartner vor einer allzu eurozentrischen Betrachtungsweise und fordern einen Blick über den Tellerrand hinaus in den asiatisch-pazifischen Raum. Ein machtbewusstes und immer aggressiver auftretendes China stellt die westliche regelbasierte Weltordnung infrage und hat, anders als Russland, auch die wirtschaftlichen und militärischen Mittel dazu, entsprechend im eigenen Sinne zu handeln. Washington weist zu Recht darauf hin, dass dies nicht allein ein amerikanisches Problem sei, sondern dass etwa durch eine chinesische Aggression gegen Taiwan auch die vitalen Interessen Europas betroffen wären. Daraus folgern die USA, dass der Nato als sicherheitspolitischer Zusammenschluss der westlichen Demokratien auch eine Rolle in Südostasien zukommt.

Die meisten Europäer haben das Problem mittlerweile erkannt und ihre Strategien gegenüber Beijing verändert. Galt vor Jahren noch der Leitsatz, dass China sowohl Partner, als auch Konkurrent und systemische Herausforderung sei, so hat sich mittlerweile der Dreiklang hin zum systemischen Rivalen verschoben. Allerdings zweifeln die meisten Europäer daran, dass die Nato ein wirksames Instrument im Umgang mit China sein könne. Schließlich sei sie die Nordatlantische Allianz und kein asiatisch-pazifisches Sicherheitsbündnis. Auch verfügen lediglich Frankreich und das Vereinigte Königreich über die militärischen Fähigkeiten, in dieser fernen Region effektiv zu agieren. Dennoch werden die Europäer die Wahrung ihrer Sicherheitsinteressen nicht allein den USA überlassen können, zumal US-Regierungen – nicht nur republikanische – immer weniger bereit sind, die Sicherheit Europas zu subventionieren.

Washington ante Portas

Ihren 75. Geburtstag wird die Nato mit einem Gipfel, also einem Treffen ihrer Staats- und Regierungschefs am 11. Juli 2024 in Washington, D.C. begehen. Für ausufernde Feierlichkeiten wird aber keine Zeit bleiben, müssen doch Antworten auf die oben genannten Fragen gefunden werden.

Mit Blick auf Russland scheint es derzeit nur schlechte Optionen zu geben. Ein fortdauernder Krieg ist ebenso möglich wie ein Kollaps des Regimes. Auch eine nukleare Eskalation kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Ob man die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine befürwortet oder nicht – ein weiterer Aufschub wird in dieser Frage nicht mehr möglich sein. Wenn die Ukraine (noch) kein Mitglied werden kann, dann wird man über Sicherheitsgarantien nachdenken müssen, die weit über das hinausgehen, was bislang an Zusagen gegeben wurde.

Ebenso duldet die angespannte Sicherheitslage im asiatisch-pazifischen Raum keinen Aufschub. Wenn die europäischen Nato-Mitglieder in dieser Region militärisch kaum handeln können und ihre Interessen weiterhin von den USA vertreten lassen, dann wird Washington künftig noch stärker auf eine faire Lastenteilung im Bündnis drängen. So könnten die Europäer deutlich mehr militärische Aufgaben in ihrer Nachbarschaft wahrnehmen und damit den USA die Möglichkeit geben, sich stärker auf Asien zu konzentrieren. Dies auszuhandeln wird eine der Zukunftsherausforderungen der Nato sein. Damit bleibt die Nordatlantische Allianz das, als was sie schon der ehemalige amerikanische Nato-Botschafter Harlan Cleveland 1970 beschrieben hat: "an organized controversy about who is going to do how much".

ist promovierter Politikwissenschaftler und Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er lehrt an der Universität "Roma Tre" in Rom.
E-Mail Link: karl-heinz.kamp@web.de