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Baustelle Nato | bpb.de

Baustelle Nato Die westliche Sicherheitsgemeinschaft im Umbruch

Simon Koschut

/ 17 Minuten zu lesen

Die Nato versteht sich als eine militärisch-politische Allianz, die auch eine Wertegemeinschaft verkörpert. Ursprünglich im Kalten Krieg als Verteidigungsbündnis gegründet, tritt die Nato seit den 1990er Jahren als globaler Sicherheitsakteur in Erscheinung.

Totgesagte leben bekanntlich länger. 2019 erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron den Patienten Nato für "hirntot". Derartige Abgesänge auf die Nato hörte man in der Vergangenheit häufig. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts prophezeiten viele Beobachter eine rasche Beisetzung der Nato auf dem Friedhof der Allianzen. Diese Annahme ist nicht unbegründet. Tatsächlich sterben die meisten Militärbündnisse früh: Bedrohungen von außen verschwinden, nationale Interessen divergieren, die Kosten werden zu belastend. Laut einer Studie des US-amerikanischen Thinktanks Brookings Institution beträgt die durchschnittliche Lebensdauer eines kollektiven Verteidigungsbündnisses nur etwa 15 Jahre. Auch die Gründungsmitglieder der transatlantischen Allianz hatten ursprünglich vorgesehen, den Nato-Vertrag nach zehn Jahren auslaufen zu lassen. Und doch ist die Nato – mit nun bald 75 Jahren – immer noch da, lebendig und munter. Wie konnte sich das Bündnis so lange behaupten? Ein wichtiger Grund hierfür liegt in der inneren Beschaffenheit der Organisation.

Unterschiedliche nationale Interessen und das sich verändernde sicherheitspolitische Umfeld stellen seit jeher eine Herausforderung für den inneren Zusammenhalt der Nato dar. Das transatlantische Bündnis erlebte eine Reihe schwerwiegender Konflikte und Krisen unter seinen Mitgliedern, von der Suezkrise über den Rückzug Frankreichs aus der militärischen Infrastruktur der Nato bis zum Irakkrieg. Der Zusammenhalt des Bündnisses wurde in den vergangenen Jahren besonders auf die Probe gestellt. Die Trump-Administration war vom ersten Tag an von Ambivalenz, wenn nicht sogar offener Feindseligkeit gegenüber der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft geprägt. Der US-amerikanische Präsident nannte die Nato "obsolet" und stellte offen die in Artikel 5 verankerte Kernverpflichtung der Nato infrage, die besagt, dass ein Angriff auf einen Verbündeten ein Angriff gegen alle ist. Er beschrieb die europäischen Verbündeten als "Feinde", während er illiberale und autoritäre Staaten wie Russland und China umgarnte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 führte die Nato wieder zu mehr Geschlossenheit. Gleichzeitig entstanden durch die Aufnahmeanträge Schwedens und Finnlands neue Konflikte mit dem Mitgliedstaat Türkei.

In diesem Beitrag wird sich sich mit der strategischen Entwicklung der Nato vor dem Hintergrund ihres institutionellen Wandels befasst. Er betont die innere Anpassungsfähigkeit des Bündnisses an sich verändernde sicherheitspolitische Landschaften und beleuchtet aktuelle Herausforderungen. Dabei gleicht die Nato einer "Baustelle" mit einem soliden Fundament, deren Innenausbau stetig vorangetrieben wurde, die aber an der einen oder anderen Stelle auch sanierungsbedürftig ist.

Das Fundament: Die vier Säulen der NATO

Das Fundament der Nato lässt sich in vier Säulen aufteilen, die das institutionelle Gebäude der transatlantischen Allianz tragen. In diesem Vier-Säulen-Modell lässt sich die Nato als eine Gemeinschaft der Werte, Handlungen, Kommunikation und Emotionen beschreiben.

Die Wertegemeinschaft bildet die erste tragende Säule der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft und basiert auf einem liberalen Wertekonsens. Die Gemeinschaft unterscheidet zwischen kollektiven Grundwerten und nationalen Interessen. Die Grundwerte, festgelegt im Washingtoner Vertrag von 1949, umfassen Demokratie, Freiheit, marktwirtschaftliche Zusammenarbeit und Rechtsstaatlichkeit. Diese gemeinsamen Werte stehen im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen und betonen den Frieden unter seinen Mitgliedern als zentrales Ziel. Die Wertegemeinschaft schafft den Rahmen zur Aushandlung und Vereinbarkeit von Interessen auf friedliche Weise.

Die zweite Säule der Handlungsgemeinschaft betont multilaterales Handeln und umfasst gemeinsame Handlungsnormen, die auf den Prinzipien Konsens und kollektive Verteidigung basieren. Konflikte innerhalb der Nato werden grundsätzlich friedlich und im Konsensverfahren gelöst, während Artikel 5 die Möglichkeit der kollektiven Gewaltausübung gegen äußere Angriffe im Rahmen der kollektiven Verteidigung vorsieht. Diese Entscheidung unterliegt sowohl dem Primat der Vereinten Nationen als auch der Souveränität der Mitgliedstaaten. Die Bereitschaft zur Ausübung militärischer Gewalt ist daher kein Automatismus, sondern muss immer wieder neu ausgehandelt werden.

Die dritte Säule der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft unterstreicht die Bedeutung von Kommunikation und Konsultation. Die transatlantische Kommunikationsgemeinschaft dient zum einen dem Austausch von Interessen, Bedrohungsanalysen und Empfehlungen, um den Schutz des Bündnisgebiets zu gewährleisten. Zum anderen betont das Konsultationsgebot im Washingtoner Vertrag die Berücksichtigung der Interessen und Bedrohungswahrnehmung aller Bündnispartner, um Ausgleich und Ansprechbarkeit unter den Nato-Mitgliedern zu ermöglichen. Es geht also nicht nur um reinen Informationsaustausch, sondern um Deliberation.

Die Nato hat viertens eine starke emotionale Bindung zwischen ihren Mitgliedern geschaffen. Gemeinsame Sicherheitsbelange setzen ein hohes Maß an Solidarität und Empathie voraus. Kollektive historische Erfahrungen, geteilte Werte und Bedrohungen haben dazu beigetragen, diese emotionale Säule zu formen. Militärische Kooperation, Übungen und gemeinsame Einsätze aber auch kollektive Traumata haben ein Geflecht persönlicher Beziehungen geschaffen. Insgesamt ist die Nato nicht nur institutionell und politisch, sondern auch emotional eine Gemeinschaft, die Vertrauen und Verlässlichkeit zwischen den Mitgliedstaaten schafft.

Der Innenausbau: Strategische Transformation und institutioneller Wandel

Die Nato ist eine internationale Organisation, die auf einer intergouvernementalen Zusammenarbeit beruht und die einzige institutionelle Verbindung zwischen den USA und Europa. Trotz (oder gerade wegen) ihres ausgeprägten militärischen Charakters herrscht das Primat der Politik. Für ein Militärbündnis besitzt die Nato einen ungewöhnlich hohen Institutionalisierungsgrad. Den institutionellen Kern der Allianz macht der Nordatlantikrat (NAC) aus, in dem jedes Mitgliedsland mit einer Stimme vertreten ist. Der NAC trifft die alleinige Entscheidung über Militäreinsätze sowie die Ausrufung des Bündnisfalls. Aus institutioneller Sicht wohnt der Nato eine gewisse Trägheit inne. Die formellen Treffen und Abläufe sind fest vorgegeben. Meist schreiten die "großen" Mitglieder der Nato-Quint (USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Deutschland und Italien) voran, was mitunter von den "kleinen" Staaten auch erwünscht ist. Entscheidungen im Nordatlantikrat werden einvernehmlich und ohne formale Abstimmung getroffen. Die Bündnispartner lösen Konflikte unter sich bilateral oder unter Vermittlung des Generalsekretariats. Neben den formellen Nato-Strukturen sind es daher vor allem informelle Strukturen, Gesprächskanäle und implizite Regeln, die das institutionelle Gefüge der Nato prägen. Der oftmals ritualisierte Charakter dieses Vorgehens stabilisiert die Nato, hemmt aber auch strategische Innovation.

Die Nato, oder Nordatlantikpakt, wurde 1949 inmitten des Kalten Kriegs gegründet und hat im Laufe der Jahre eine beeindruckende Geschichte des institutionellen Wandels an die sich verändernden strategischen Herausforderungen erlebt. Die Allianz präsentierte sich nach außen als liberale Wertegemeinschaft, blieb aber nach innen mitunter flexibel. So gehörte das damals diktatorisch regierte Portugal wegen seiner strategisch wichtigen Militärbasen auf den Azoren zu den Gründungsmitgliedern. Von 1967 bis 1974 tolerierte das Bündnis eine griechische Militärdiktatur in seinen Reihen. Ursprünglich diente das Bündnis einem dreifachen Zweck, wie es der erste Generalsekretär der Nato, Lord Ismay, etwas undiplomatisch formulierte: "To keep the Americans in, the Russians out, and the Germans down". Die Nato ist heute in erster Linie dem Schutz seiner Mitglieder vor äußeren Bedrohungen verpflichtet, wobei diese mittlerweile nicht nur Staaten, sondern auch transnationale Phänomene wie Terrorismus, Migration, Pandemien, Cyberkriege und Klimawandel umfassen und die Nato seit den Balkankriegen der 1990er Jahre auch außerhalb ihres Bündnisgebiets militärisch interveniert (out-of-area). Der "Innenausbau" der Nato lässt sich in drei "Bauphasen" unterteilen.

Aufbau- und Konsolidierungsphase: Von der Militärallianz zum politischen Bündnis

Die Nato wurde gegründet, um die Sicherheit der westlichen Demokratien angesichts der Bedrohung durch die Sowjetunion und den ab 1955 bestehenden Warschauer Pakt zu gewährleisten. Ihre institutionellen Wurzeln gehen zurück auf den Brüsseler Pakt (der späteren Westeuropäischen Union) und die Atlantik-Charta, in der der damalige britische Premierminister Winston Churchill und sein US-amerikanischer Verbündeter Präsident Franklin D. Roosevelt ihre Vorstellungen einer Nachkriegsordnung skizzierten. Die Nato war von Beginn an ein von den USA dominiertes Militärbündnis und damit Teil globaler Hegemonialbestrebungen des Landes. Neben der Nato gründeten die USA damals weitere Militärbündnisse, wie den Bagdad-Pakt (CENTO), den Südostasienpakt (SEATO) oder das ANZUS-Abkommen mit Australien und Neuseeland, von denen heute keines mehr existiert. Es waren jedoch die Westeuropäer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die USA (und Kanada) zur Gründung der Nato einluden, da sie den zunehmenden sowjetischen Einfluss in Europa fürchteten.

Das erste strategische Konzept von 1949 betonte die kollektive Verteidigung und Solidarität der Mitgliedstaaten: Ein Angriff auf ein Mitglied sollte als Angriff auf alle betrachtet werden. Die Nato setzte dabei auf nukleare Abschreckung, um einen bewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion zu verhindern. Dem zu Grunde lag das Prinzip der massiven Vergeltung: jeder Angriff auf das Bündnisgebiet würde mit einem nuklearen Gegenschlag beantwortet. Allerdings weigerten sich die USA, europäischen Forderungen nach einer Verpflichtung zum militärischen Beistand nachzugeben, sollte ein Mitgliedsland angegriffen werden. Der US-Kongress befürchtete, in künftige europäische Kriege verwickelt zu werden. Die Beistandsverpflichtung in Artikel 5 des Nato-Vertrags wurde daher so formuliert, dass es jedem Land ermöglichen würde, andere Unterzeichnerstaaten mit Maßnahmen zu unterstützen, "die es für erforderlich erachtet". Gleichzeitig lieferten die USA Waffen und stationierten Truppen in Westeuropa, um die Verteidigungsfähigkeit der Nato-Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Zudem kam es zu einer verstärkten militärischen Integration innerhalb des Bündnisses.

Der Koreakrieg und die deutsche Wiederbewaffnung gingen mit einer weiteren Institutionalisierung der Nato-Strukturen einher, etwa über die Schaffung einer integrierten Kommandostruktur unter einem gemeinsamen Kommandeur, dem Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) sowie der Einrichtung eines dauerhaften militärischen Hauptquartiers. Die Mitgliedstaaten entsandten nun Ständige Vertreter – die sogenannten "Nato-Botschafter" – die den nationalen Delegationen im Nato-Hauptquartier bis heute vorstehen und die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten vertreten sollen.

1956 führte die Suezkrise zum offenen Bruch zwischen den Bündnispartnern USA, dem Vereinigten Königreich und Frankreich, dessen Auswirkungen bis heute in der Nato spürbar sind. Während das Vereinigte Königreich versprach, niemals wieder von der Seite der USA abzuweichen, kam Frankreich zur Erkenntnis, dass es weder dem Vereinigten Königreich bedingungslos vertrauen noch sich uneingeschränkt auf die Vereinigten Staaten verlassen sollte.

In den 1960er Jahren erfolgte eine Anpassung der US-amerikanischen Nuklearstrategie. Die Kubakrise hatte deutlich gemacht, wie rasch sich die Supermächte an den Abgrund eines nuklearen Kriegs bewegt hatten. Zudem erschienen Ausmaß und Risiko eines solchen Kriegs kaum mehr beherrschbar, da sich die Anzahl sowohl der Atomwaffen als auch der Atommächte seit 1945 drastisch erhöht hatte. Mit der Weiterentwicklung von Nuklearwaffen und dem Wunsch nach zugeschnittenen Reaktionsoptionen wurde von den USA das Konzept der "Flexible Response" (flexible Reaktion) entwickelt. 1967 wurde dieses Konzept zur offiziellen Verteidigungsstrategie der Allianz. Diese sah vor, auf äußere Angriffe mit einer breiteren Palette von Optionen zu reagieren, einschließlich konventioneller Streitkräfte. Dazu wurde ein Stufenplan entwickelt, der eine verhältnismäßige Eskalation militärischer Gegenmaßnahmen umfasste. Gleichzeitig begannen Entspannungsbemühungen, um die Konflikte zwischen Ost und West abzubauen.

In dieser Zeit kam es zu institutionellen Spannungen innerhalb des Bündnisses. Im Zuge des Vietnamkrieges erhöhten die USA den Druck auf Europa, sich militärisch auch außerhalb des Bündnisgebiets zu engagieren. Dem erteilten die politisch und wirtschaftlich wiedererstarkten Europäer eine deutliche Absage und forderten umgekehrt mehr Mitsprache und Beteiligung innerhalb der Nato. Im Falle Frankreichs kam es zum offenen Bruch mit der Allianz, als der französische Präsident Charles de Gaulle seine Streitkräfte 1966 aus den integrierten militärischen Strukturen der Nato abzog und seine Bündnispartner buchstäblich vor die Tür setzte: Das Nato-Hauptquartier musste von Paris nach Brüssel verlegt werden. Dennoch blieb Frankreich Mitglied und trat 2009 schließlich wieder in die Militärstruktur ein.

Im Zuge dieser inneren Konsolidierung entwickelte sich die Nato von einem rein militärischen Bündnis zu einer politischen Institution. Die Allianz sollte künftig stärker demokratischen Prinzipien folgen und es ihren Mitgliedern ermöglichen, gemeinsam in Angelegenheiten der Verteidigung und Sicherheit zu beraten und zu kooperieren. Ziel war es, gemeinsame Herausforderungen künftig besser zu bewältigen, Vertrauen aufzubauen und Konflikte unter den Verbündeten zu vermeiden. Zugleich wurde die Integration der Streitkräfte vorangebracht. So gründete die Nato 1966 den Militärausschuss. Dieser bildet das höchste militärische Gremium und besteht aus den Stabschefs aller Mitgliedstaaten. Aufgabe des Militärausschusses ist es, Maßnahmen und Empfehlungen zur gemeinsamen Verteidigung des Bündnisgebiets zu erarbeiten. Zudem entstand 1968 die sogenannte Eurogroup der europäischen Verteidigungsminister der Nato, um die Verteidigungspolitik unter den westeuropäischen Mitgliedern besser zu koordinieren und gegenüber den USA eine gemeinsame Position vertreten zu können. Dies konnte jedoch den ersten und bislang einzigen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Nato-Staaten nicht verhindern. 1974 kam es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Nato-Partnern Türkei und Griechenland, als griechische Putschisten auf Zypern eine Angliederung der Insel an Griechenland anstrebten. Daraufhin besetzten türkische Truppen den hauptsächlich von der türkischstämmigen Minderheit bewohnten Nordteil der Insel. Die Nato musste dabei zusehen, wie die Vereinten Nationen in dem Konflikt erfolgreich vermittelten.

Selbstfindungsphase: Vom regionalen Verteidigungsbündnis zum globalen Sicherheitsakteur

Das Ende des Ost-West-Konflikts führte zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der Nato. Das Wegfallen des gemeinsamen Feindbilds erzeugte eine Sinn- und Legitimitätskrise. Im Zuge dessen suchte die Nato nach neuen Aufgaben. Diese fand sie in Form ethnischer Konflikte und Bürgerkriege außerhalb des Bündnisgebiets, beispielsweise in Bosnien und Herzegowina. Das strategische Konzept wurde 1991 grundlegend überarbeitet, um den veränderten geopolitischen Bedingungen gerecht zu werden. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das militärische Personal der Allianz praktisch halbiert. Die Nato öffnete sich zugleich für ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten. Die Territorialverteidigung des Bündnisgebiets stand nun nicht länger im Vordergrund. Stattdessen konzentrierte sich das Bündnis auf Aufgaben des internationalen Krisenmanagements in asymmetrischen Konflikten unter dem Mandat der Vereinten Nationen. Hierzu wurde die Combined Joint Task Force (CJTF) entwickelt. Die CJTF ist eine multinationale Militäreinheit, die aus verschiedenen Teilstreitkräften und Nationen zusammengesetzt ist und gemeinsam an einer bestimmten militärischen Aufgabe oder Operation arbeitet.

Dem gingen intensive Debatten innerhalb des Bündnisses voraus, ob die Nato überhaupt außerhalb ihres Bündnisgebiets militärisch intervenieren dürfe und solle. Letztlich beendeten die USA diese Debatte, indem sie die Europäer vor die Wahl stellten: Entweder würde die Nato sich den neuen geopolitischen Herausforderungen anpassen oder schlicht irrelevant werden – "Nato will go out of area or out of business", wie es der US-amerikanische Senator Richard Lugar auf den Punkt brachte. Die Balkankriege der 1990er Jahre führten den Europäern in dramatischer Weise vor Augen, dass sie ohne die USA politisch und militärisch nicht in der Lage waren, einen bewaffneten Konflikt vor ihrer eigenen Haustür zu lösen. Der Kosovoeinsatz, der sogar ohne Mandat der Vereinten Nationen durchgeführt wurde, führte zu teils heftigen Kontroversen innerhalb des Bündnisses.

Die Nato entwickelte sich nach dem Kosovokrieg weiter zu einem globalen sicherheitspolitischen Akteur. Das strategische Konzept von 1999 betonte die Notwendigkeit von globalen Partnerschaften und internationaler Zusammenarbeit. Die Allianz bildete Sicherheitskräfte im Irak aus, leistete logistische Unterstützung für die Mission der Afrikanischen Union in Darfur, koordinierte die Tsunami-Hilfsmaßnahmen in Indonesien und unterstützte 2005 die humanitäre Hilfe in Pakistan während eines schweren Erdbebens. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der erstmaligen Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5 richtete sich die Aufmerksamkeit dann verstärkt auf den Kampf gegen den transnationalen Terrorismus. Die Nato begann, ihre Fähigkeiten zur Terrorismusbekämpfung und zur Stärkung der Cybersicherheit auszubauen. Zudem kam es auf dem Nato-Gipfel in Prag 2002 zu einer Kommandoreform, bei der die Nato Response Force (NRF) und das Allied Command Transformation (ACT) eingerichtet wurden. Diese institutionelle Reform diente der militärischen Transformation der Organisation hin zu einem global agierenden Sicherheitsakteur und sollte sie in die Lage versetzen, rasch auf unterschiedliche Krisensituationen und Bedrohungen in der Welt zu reagieren. Die Bilanz fällt allerdings eher ernüchternd aus. In Afghanistan übernahm die Nato 2003 die Führung der internationalen Sicherheitsunterstützungsmission (ISAF). Der Afghanistaneinsatz war von einer Vielzahl komplexer Probleme geprägt, darunter eine unübersichtliche Konfliktlage, unzureichende Governance, mangelnde Integration von lokalem Wissen, die Gegenreaktion und der Aufstand lokaler Kräfte, zivile Opfer, Schwierigkeiten bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit, regionale geopolitische Interessen sowie eine fehlende Exit-Strategie. Folglich endete er 2021 in einem Fiasko.

Eine der größten Krisen in der Geschichte des Bündnisses löste 2003 der Irakkrieg aus, als die meisten Nato-Partner den USA ihre Unterstützung verweigerten. Die USA versammelten stattdessen eine "Koalition der Willigen" außerhalb der Nato-Strukturen und marschierten im Irak ein. Dieser Alleingang der USA hat der Nato enorm geschadet und belastete die Beziehungen zwischen den Bündnispartnern auf Jahre hin. Die Europäer beklagten eine Instrumentalisierung der Nato durch die USA für eigene nationale Interessen und forderten mehr europäische Eigenständigkeit. Obwohl die USA dies im Sinne eines fairen Lastenausgleichs grundsätzlich begrüßten, fürchtete Washington eine Abkoppelung der Europäer im Bündnis. Mit dem "Berlin-Plus-Abkommen" wurde dieser Konflikt beigelegt. Mit der Vereinbarung zwischen der Nato und der Europäischen Union (EU), wurde es der EU zudem ermöglicht, die militärischen Mittel und Fähigkeiten der Nato für ihre eigenen Krisenbewältigungsoperationen zu nutzen.

Rückbesinnungsphase: Zurück in die Zukunft des Kalten Kriegs

Mit der Annexion der Krim durch Russland 2014 erfolgte die dritte strategische Neuausrichtung der Nato. Seitdem steht die territoriale Verteidigung des Bündnisgebiets wieder im Zentrum. Doch die militärischen Fähigkeiten und die Infrastruktur der Nato entsprechen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht mehr der Kernaufgabe, einen konventionellen Krieg in Europa führen zu können. Die militärischen Fähigkeiten und die logistische Infrastruktur auf dem Niveau des Kalten Kriegs wurden seit den 1990er Jahren auf ein Minimum reduziert oder in einigen Fällen sogar aufgelöst. Die Nato hatte aufgehört, Infrastrukturinformationen über europäische Brücken, Straßen und Tunnel zu sammeln, die für den Truppentransport zum Schutz ihrer Ostgrenzen von entscheidender Bedeutung sind. Auf dem Nato-Gipfel in Wales 2014 beschlossen die Staats- und Regierungschefs daher einen sogenannten Readiness Action Plan (RAP), um den Schutz des Bündnisgebiets zu verstärken. Im Rahmen des RAP gründeten die Nato-Mitglieder eine Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), bestehend aus Land-, Luft-, See- und Spezialeinsatzkräften, die im polnischen Szczecin stationiert ist. Die Einrichtung der sogenannten "Speerspitze" der Nato führte schließlich zur rotierenden Stationierung sogenannter Nato-Battlegroups in allen drei baltischen Staaten sowie in Polen im Rahmen der Enhanced Forward Presence (EFP).

Zudem beschlossen die Mitgliedstaaten verbindlich künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für militärische Verteidigung auszugeben. Doch die schleppende Umsetzung dieses Beschlusses sorgte für Sprengkraft innerhalb des Bündnisses. Auf dem Nato-Gipfel in Brüssel 2018 drohte US-Präsident Donald Trump unverhohlen mit dem Austritt der USA aus dem Bündnis. Schließlich erhöhten die USA aber ihre Militärpräsenz in Osteuropa und steigerten ihre finanziellen Investitionen in die Sicherheitsinfrastruktur europäischer Nato-Staaten, um künftig Truppenverlegungen innerhalb Europas sowie den Schutz der östlichen Außengrenzen zu verbessern. Die Nato baute hierfür zwei neue Kommandozentren auf, eines in Norfolk (USA) und eines im deutschen Ulm. Die Zentren sind das Resultat einer erhöhten Bedrohungswahrnehmung gegenüber Russland und sollen Truppen- und Materialtransporten dienen sowie sensible Infrastruktur wie Internet- und Kommunikationsverbindungen im Atlantik absichern. Dies geschah vor allem auf Druck der USA, entsprach aber auch dem Wunsch vieler östlicher Nato-Mitglieder.

Insgesamt spiegelt die Geschichte der Nato eine institutionelle Anpassung an sich verändernde strategische Herausforderungen wider. Das Aufgabenspektrum hat sich stark erweitert. Von der ursprünglichen kollektiven Verteidigung bis hin zur Bewältigung globaler Herausforderungen wie Terrorismus. Diese Fähigkeit zur Anpassung an die veränderte sicherheitspolitische Umgebung ist es, was die Nato ausmacht und was es ihr ermöglicht hat, als Sicherheitsinstitution fortzubestehen. Dass diese Anpassung zu einem erheblichen Teil den nationalen Interessen der USA Rechnung trägt, kann angesichts der hegemonialen Machtstellung der USA innerhalb des Bündnisses kaum überraschen. Dennoch konnten sich auch die Europäer in strategischen Fragen durchsetzen und – wie im Fall des Irakkriegs – eine Vereinnahmung der Nato durch die USA verhindern. Zudem profitieren die Europäer nach wie vor von den US-amerikanischen Sicherheitsgarantien. Die Nato bleibt daher auf absehbare Zeit die wichtigste Konstante der europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur.

Die Sanierung: Aktuelle institutionelle Herausforderungen

Die jüngsten Entwicklungen, einschließlich der anhaltenden Spannungen mit Russland, haben die Nato veranlasst, ihr strategisches Konzept abermals zu überarbeiten. Das aktuelle strategische Konzept von 2022 legt fest, dass auch hybride Bedrohungen und Cyberangriffe sowie Angriffe im Weltraum gegen einen oder mehrere Mitgliedstaaten den Bündnisfall nach Artikel 5 auslösen können. Russland wird darin erstmals seit dem Kalten Krieg wieder als "direkte Bedrohung" gesehen, China immerhin als "Herausforderung" bezeichnet.

Die entscheidende Frage ist, ob die aktuelle Bedrohung durch Russland künftig eine ähnliche Bindungswirkung erzeugen kann wie seinerzeit die Bedrohung durch die Sowjetunion. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat innere Spannungen lediglich überdeckt, diese aber nicht gelöst. Aktuell steht die Nato vor einer Reihe von strategischen Herausforderungen, die ihre institutionelle Rolle, ihre militärischen Fähigkeiten und ihre politische Zusammenarbeit maßgeblich beeinflussen werden.

Erstens muss sich die Nato an die sich verändernden globalen Machtstrukturen anpassen, einschließlich des Aufstiegs Chinas. Deutlich wurde dies im Abschlussdokument des jüngsten Nato-Gipfels in Vilnius 2023: "Die erklärten Ambitionen und die repressive Politik der Volksrepublik China stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte infrage". In Vilnius waren daher auch globale Partner in Asien wie Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan zugegen. Was das jedoch strategisch für das Bündnis konkret bedeutet, darüber sind sich die Nato-Staaten bislang noch uneins: Wie würde die Allianz auf eine chinesische Invasion in Taiwan reagieren? Die unterschiedliche Interessenlage im Bündnis könnte künftig zu wachsenden Spannungen führen. Während bereits seit Langem einige Stimmen in den USA eine globale Erweiterung der Nato in den pazifischen Raum fordern, drängen insbesondere die mittel- und osteuropäischen Länder auf den Ausbau der Abschreckungsfähigkeit in Europa.

Zweitens haben viele Mitgliedstaaten nach wie vor Schwierigkeiten, das gemeinsame Ziel der Verteidigungsausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erreichen, wie es im Rahmen des Bündnisses 2014 vereinbart wurde. Dies führt zu Spannungen innerhalb der Allianz und zur Forderung nach einer gerechteren Verteilung der finanziellen Lasten. Dies kann die Fähigkeit der Nato beeinträchtigen, angemessen auf äußere Bedrohungen zu reagieren. Dabei müssen es nicht zwingend höhere Verteidigungsausgaben sein. Über die stärkere Integration militärischer Beschaffung und Produktion sowie die nationale Spezialisierung militärischer Kapazitäten ließe sich viel Geld einsparen.

Drittens muss die Nato ihren inneren Zusammenhalt bewahren. Zwar hat sie durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder zu alter Stärke gefunden. Doch diese Stärke ist zerbrechlich, wie die türkische Blockade gegen den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands gezeigt hat. Zudem steckt den Nato-Verbündeten immer noch der Schock der Trump-Jahre in den Knochen. Dieser könnte sich wiederholen, denn Trump bewirbt sich gerade erneut um die US-Präsidentschaft. Darüber hinaus schwindet bereits jetzt der Rückhalt für die Unterstützung der Ukraine innerhalb der Republikanischen Partei im US-Kongress. Aber auch in einigen europäischen Mitgliedstaaten wie Polen, Ungarn und der Slowakei bröckelt der Rückhalt.

Schließlich darf die berechtigte strategische Rückbesinnung auf die Verteidigung des Bündnisgebiets nicht dazu führen, dass die Nato andere strategische Herausforderungen vernachlässigt. Die Bedrohung durch terroristische Gruppen und Instabilität in Regionen wie dem Nahen Osten und Nordafrika erfordern eine koordinierte Antwort der Nato-Mitglieder. Die Auswirkungen des Klimawandels können geopolitische Spannungen erhöhen und humanitäre Krisen auslösen, was die Allianz dazu veranlassen sollte, diese Aspekte weiterhin – im Rahmen des bewährten 360-Grad-Ansatzes – in ihre strategische Planung einzubeziehen. Die Nato muss dabei sicherstellen, dass ihre Handlungen und Entscheidungen im Einklang mit den demokratischen Werten stehen, auf denen sie basiert.

ist Professor für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
E-Mail Link: simon.koschut@zu.de