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Deutscher Herbst 1991 | Rechte Gewalt in den 1990er Jahren | bpb.de

Rechte Gewalt in den 1990er Jahren Editorial #baseballschlägerjahre. Ein Hashtag und seine Geschichten Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre Deutscher Herbst 1991. Rechte Gewalt und nationale Selbstbetrachtung Umkämpftes Erinnern. Für eine migrantisch situierte Geschichtsschreibung Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik Radikale Rechte als ostdeutsches Problem? Zur langen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Rechtspopulismus in Ostdeutschland Jung, männlich, ostdeutsch, gewalttätig? Die Debatte um Jugendarbeit und rechte Gewalt seit den 1990er Jahren

Deutscher Herbst 1991 Rechte Gewalt und nationale Selbstbetrachtung

Janosch Steuwer Till Kössler

/ 15 Minuten zu lesen

Durchlebte die Bundesrepublik mit der Welle rechter Gewalt 1991 nach dem RAF-Terror von 1977 einen zweiten "Deutschen Herbst"? Die Diskussion dieser Frage birgt Potenzial für die Auseinandersetzung mit der rechten Gewalt der frühen 1990er Jahre heute.

Im Dezember 1991 blickte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zurück auf ein Jahr, das "in die Geschichte des angeblich 'neuen' Deutschlands eingehen" werde. Angesichts des welthistorischen Geschehens in den Jahren 1989 und 1990 kann diese Einschätzung erstaunen. Doch Heitmeyer war sich sicher, dass eine dramatische, nur wenige Wochen zurückliegende Welle rassistischer Gewalttaten das Jahr 1991 in die kollektive Erinnerung als eines einschreiben werde, "in dem Fremdenfeindlichkeit und Gewalt (…) einen vorläufigen schrecklichen Höhepunkt erreicht haben".

Mit dieser Einschätzung war der Wissenschaftler nicht allein. Auch andere teilten das Gefühl, in den gewaltvollen Wochen des vergangenen Herbst einen historischen Moment miterlebt zu haben, der das frisch vereinte Land verändert hatte. Ausdruck fand dieses Gefühl unter anderem in einer vor allem in linken und liberalen Zeitungen und Publikationen häufig gebrauchten Wendung, die das Erschrecken über die unerwartete Gewalt mit einem Erinnerungsbild zu fassen versuchte: mit dem Verweis auf den Terror der Roten Armee Fraktion im sogenannten Deutschen Herbst 1977. Der Schriftsteller Stephan Hermlin hatte in diesem Sinne am 4. Oktober 1991 auf einer Konferenz gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Nationalismus das erste Mal vom "Deutschen Herbst 1991" gesprochen. Andere taten es ihm nach und formulierten eine historische These, die bis heute zu provozieren vermag: dass die rassistische Gewalt im Herbst 1991 einen historischen Fixpunkt darstelle und sich ebenso in die Erinnerung des Landes einschreiben werde wie die Ermordung von Hanns-Martin Schleyer, die Landshut-Entführung und die Selbstmorde von Stuttgart-Stammheim 1977.

Zumindest mit Letzterem lagen die Zeitgenossen falsch. In historischen Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik spielt das Jahr 1991 keine besondere Rolle. Und auch in der öffentlichen Erinnerung ist es nicht zu einer ähnlichen Referenz geronnen wie 1977. Doch das Gefühl, eine Zäsur erlebt zu haben, war deshalb nicht falsch. Gegenwärtig wächst die Einsicht, dass vor allem in Ostdeutschland die Nachwendejahre nicht nur durch den Übergang in die marktwirtschaftliche Demokratie geprägt waren, sondern ebenso von massiver Gewalt. Sie entwickelte sich zu einem entscheidenden Signum der "Baseballschlägerjahre", denen im Abstand von drei Jahrzehnten nun größere Aufmerksamkeit in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit zuteil wird. Eine genauere historische Beschreibung, die die innere Dynamik der rechten Gewalt in den 1990er Jahren erfasst, steht jedoch aus. Hierfür bietet die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991" einen Ausgangspunkt.

Rechte Gewalt im Herbst 1991

Was also war geschehen? Mitte September 1991 wurde die deutsche Öffentlichkeit auf eine Welle von Angriffen auf Geflüchtete und ihre Wohnstätten aufmerksam, die das kaum ein Jahr geeinte Land tiefgreifend erschütterte. Bereits Ende August hatten Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt in ihren Statistiken eine Zunahme "fremdenfeindlicher Gewalttaten" registriert. Öffentlich bemerkt wurde dieser Anstieg allerdings erst nach den heftigen rassistischen Attacken im sächsischen Hoyerswerda, wo seit dem 17. September mehr als hundert Gewalttäter mehrere Abende in Folge die Wohnheime von Arbeitsmigranten und Geflüchteten angriffen. Unterstützt wurden sie von einer wachsenden Menge an Schaulustigen, deren "Ausländer raus"-Rufen Polizei und Behörden schließlich nachgaben und die attackierten Menschen aus der Stadt brachten.

Gewaltsame Übergriffe auf "Ausländer" und "Fremde" hatte es in beiden Teilen Deutschlands auch zuvor gegeben. Das Pogrom von Hoyerswerda schuf aber eine neue Situation, weil das tagelange Gewaltgeschehen das Interesse der Medien bündelte und durch spektakuläre Pressefotos und Fernsehbilder der rechten Gewalt eine ungekannte Sichtbarkeit verschaffte. "Hoyerswerda" wurde über die Landesgrenzen hinaus zu einem Schreckensbild rechter Gewalt, zugleich aber auch zum Vorbild für eine Welle an Folgetaten, die im Herbst 1991 durch die Bundesrepublik rollte.

Im 400 Kilometer entfernten Biebertal bei Gießen verfolgte etwa ein 18-jähriger Bäckerlehrling über die Medien die Gewalt in Hoyerswerda mit Neugier und Zustimmung. Keine zwei Wochen später, am Abend des 7. Oktober, griff er die Geflüchtetenunterkunft im benachbarten Fellingshausen an. Rund 40 Menschen, fast alle Kurden aus der Türkei, lebten zu dieser Zeit in dem Gebäude, auf das der unschwer als Skinhead zu erkennende Mann mit einem Freund aus der Szene zwei Molotowcocktails schleuderte. Es war pures Glück, dass die Brandsätze nicht zündeten. Ähnliches geschah an zahlreichen Orten im gesamten Bundesgebiet mit oftmals weitaus dramatischerem Ausgang. In Saarlouis war bereits am 19. September 1991 der aus Ghana stammende Samuel Kofi Yeboah gestorben, als Neonazis das dortige Asylbewerberheim angezündet hatten. Andernorts führten Brandanschläge zu schweren Verletzungen durch Verbrennungen, Rauchvergiftungen und Sprünge aus oberen Stockwerken.

Ihr Ausmaß lässt sich heute kaum genauer beziffern. Besser sind wir über den Verlauf der Gewalt informiert. Hatten die Sicherheitsbehörden Anfang 1991 noch rund 30 "fremdenfeindliche Gewalttaten" pro Monat registriert, waren es im Sommer bereits 80. Im September zählten Kriminalpolizei und Verfassungsschutz dann mehr als 220 "fremdenfeindliche Gewalttaten", von denen drei Viertel auf die Tage nach dem Beginn der Gewalt in Hoyerswerda entfielen. Im Oktober waren es 489.

Verantwortlich für das Anschwellen der Gewalt war vor allem die Häufung von Brandanschlägen, von denen allein im Oktober 154 gezählt wurden. Weit mehr als das in der Erinnerung haften gebliebene Pogrom von Hoyerswerda repräsentieren Brandanschläge wie jener im hessischen Fellingshausen die Gewalt des Herbst 1991, die auch kein ostdeutsches Phänomen war. Die große Mehrheit der Brandanschläge im Oktober 1991, 115 an der Zahl, wurde vor allem in ländlichen Regionen Westdeutschlands verübt.

Die Gewalt umfasste zudem zahlreiche schwere Sachbeschädigungen und Körperverletzungen aus "fremdenfeindlichen" Motiven, die im Herbst 1991 ebenfalls drastisch zunahmen. Offiziell stieg ihre Zahl von rund 50 Vorfällen im Sommer auf insgesamt 486 Vorfälle im September und Oktober 1991, wobei die Statistiken der Sicherheitsbehörden diese Entwicklung wahrscheinlich deutlich unvollständiger erfassten als bei den recht zuverlässig registrierten Brandanschlägen. Rassistische Bedrohungen und Beleidigungen, die die Statistik nicht als Gewaltdelikte klassifizierte, sondern als andere "fremdenfeindliche" Gesetzesverstöße, wurden noch weniger erfasst. Doch selbst ohne ihre systematische Berücksichtigung stieg die Zahl der insgesamt registrierten "fremdenfeindlichen" Gewalt- und weiterer Straftaten allein für den Oktober 1991 zusammengenommen auf fast tausend – mehr als dreimal so viele, wie für die gesamte erste Jahreshälfte gezählt worden waren.

Am Jahresende lagen die Zahlen der "fremdenfeindlichen" Gewalt noch immer deutlich über denen aus dem Frühjahr und Sommer, auch wenn sie seit Mitte Oktober wieder rückläufig waren. Doch die Gesamtbilanz des Jahres 1991 zeigte in aller Deutlichkeit, dass der sprunghafte Anstieg im Herbst rechte Gewalt auf ein ungekanntes Niveau gehoben hatte: Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich 1991 allein die Zahl der Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Brandanschläge auf annähernd 1.500 Vorfälle fast verfünffacht.

Zweiter "Deutscher Herbst"?

War dies ein zweiter "Deutscher Herbst", wie es Wilhelm Heitmeyer und anderen 1991 schien? Darauf gibt es zwei Antworten, je nachdem, wie man den Ausdruck versteht. Begreift man ihn als Aufforderung, das Gewaltgeschehen aus dem Herbst 1991 mit jenem aus dem Jahr 1977 zu vergleichen, um die rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre im Lichte des Linksterrorismus zu deuten, erweist sich die Wendung vom "Deutschen Herbst" als wenig hilfreich. Zu offensichtlich sind die Unterschiede zwischen 1977 und 1991.

Die Soziologen Jörg Bergmann und Claus Leggewie haben dies am Beispiel des Brandanschlags in Fellingshausen eindrucksvoll beschrieben. Dessen Täter waren keine Mitglieder "einer vielarmigen 'rechten RAF', die den Nationalsozialismus wieder herbeizündeln" wollten. Ihr Anschlag war nicht geplant entstanden, nicht einmal ein richtiges Motiv vermochten die beiden Männer anzugeben. Womit man im Herbst 1991 konfrontiert war, so Bergmann und Leggewie, sei ein "kleinteilige[r] Massenterror", der einer eigenen "Logik" folge. Ähnliches unterstrichen auch die Spitzen der deutschen Sicherheitsbehörden, als sie im Herbst 1991 von Journalisten und Politikern zu einem "Vorgehen wie gegen die RAF" aufgefordert wurden. Die Anschläge, so betonte etwa das Bundeskriminalamt, würden "überwiegend spontan und ohne größere Tatvorbereitung verübt" und daher "bedingte Möglichkeiten für zentrale Bekämpfungsansätze" eröffnen. Anders als 1977, als der Staat Härte gegenüber den Terroristen zeigte, sahen sich die Sicherheitsbehörden mit ihrem auf organisierten Terrorismus ausgerichteten Instrumentarium 1991 der Gewalt "weitgehend machtlos" gegenüber. Begreifen lässt sich die Gewalt des Herbst 1991 mit dem Verweis auf die RAF insofern kaum.

Doch die Wendung vom "Deutschen Herbst" lässt sich für das Jahr 1977 ebenso sehr als Ausdruck begreifen, der weniger die Gewalt selbst als die besondere Dramatik und Spannung fasst, in die der Terror der RAF die bundesdeutsche Gesellschaft versetzte. Sie setzten Volker Schlöndorff, Rainer Werner Fassbinder und andere Regisseure 1978 in ihrem Episodenfilm "Deutschland im Herbst" eindrucksvoll ins Bild, der den Ausdruck in der politischen Sprache der Bundesrepublik verankerte. So verstanden, verweist die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991" auf die zeitgenössische Erfahrung und Reflexion der gewaltvollen Wochen im September und Oktober 1991, die in der Tat eine heute weitgehend vergessene Dramatik besaßen, die jener des Jahres 1977 nicht nachstand.

Ein Feiertag im Schatten der Gewalt

Auch im Herbst 1991 provozierte die Gewalt heftige Reaktionen und Diskussionen, die rasch grundlegende Fragen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung betrafen. Sie setzten mit dem Pogrom von Hoyerswerda ein, wurden in ihrer Dramatik aber vor allem am ersten Jahrestag der "Wiedervereinigung" am 3. Oktober sichtbar, der zufällig mitten in die Gewaltwelle fiel. Das Datum war 1990 zum neuen Nationalfeiertag bestimmt worden, der den Deutschen Anlass zur Rückschau auf den Einigungsprozess geben sollte. 1991 stand der Feiertag dann aber im Schatten der Gewalt. Hierfür sorgten nicht zuletzt teilnehmerstarke Demonstrationen "gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus" in zahlreichen Städten, zu denen Parteien, migrantische Organisationen, kirchliche und andere gesellschaftliche Gruppen aufriefen. Ihnen schlossen sich Tausende Menschen an: 5.000 in Hamburg, wo die offiziellen Feierlichkeiten stattfanden, 10.000 in Berlin, 6.000 in Frankfurt am Main. Die Demonstranten beklagten nicht nur die Gewalt, sondern ebenso ein "Staatsversagen" und ein "Scheitern des Rechtsstaates", das in manchen Städten Aktivisten schon in den zurückliegenden Tagen dazu getrieben hatte, mit nächtlichen Mahnwachen Geflüchtetenheime vor Angriffen zu schützen. Ihr Entsetzen darüber, wie unvorbereitet die Gewalt Staat und Gesellschaft traf, bündelten die Demonstrationen am 3. Oktober nun in lautstarken Forderungen an Regierung und Sicherheitsbehörden, entschlossen gegen die Gewalt vorzugehen.

Auch Politiker aller Parteien nutzten den Nationalfeiertag, um die Deutschen in Ost und West zur "Solidarität untereinander und zur Toleranz gegenüber Ausländern" aufzurufen, wie es die "Tagesschau" am Abend des 3. Oktober zusammenfasste. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte schon im Vorfeld gemahnt, dass sich der Vereinigungsprozess letztlich in der Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit gegenüber "den Ausländern" erweisen werde. "Wenn wir im Verhältnis zu den Ausländern versagen, dann würden wir auch im Verhältnis unter uns Deutschen nicht Bestand haben." Entsprechend waren auch die Reden beim offiziellen Festakt am 3. Oktober nachhaltig von der Anschlagsserie seit Hoyerswerda geprägt. Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth etwa bekannte offen, dass die Gewalt an diesem Tage die Freude über die deutsche Einheit überlagere: "Unruhe ist aufgekommen, Emotionen sind in Bewegung geraten, die sonst vielleicht länger im Verborgenen hätten weiterkeimen können. (…) Wir erleben einen gewaltigen Umbruch, weltweite Veränderungen, deren Konsequenzen uns fesseln und zugleich ängstigen. Dazu gehören die offenen Grenzen, die wir gewollt haben, mit denen wir aber erst noch leben lernen müssen." Auch dafür müssten alle "Zeichen der Solidarität mit den Zufluchtsuchenden setzen" und sich "die politisch Verantwortlichen (…) schützend vor die ausländischen Mitbürger" stellen und sich "jeder Gewalt, jeder seelischen oder körperlichen Verletzung mit allen Mitteln widersetzen".

Doch Demonstrationen, Appelle und mahnende Worte auch anderer Staatsvertreter konnten nicht verhindern, dass die begonnene Serie rechter Angriffe und Anschläge mit dem Nationalfeiertag noch einmal dramatisch zunahm. Verfassungsschutz und Polizei registrierten am Tag der Deutschen Einheit 1991 den "absoluten Höhepunkt der fremdenfeindlichen Krawalle in den 1990er Jahren", der seinerseits neue Gewalttaten in den folgenden Tagen animierte. Aus der Menge der Angriffe und Anschläge an diesem Tag stach vor allem ein Brandanschlag im niederrheinischen Hünxe hervor. Drei Skinheads hatten sich in dem Dorf auf einer privaten Feier zum Tag der Deutschen Einheit mit Alkohol und Rechtsrock so lange aufgeputscht, bis die Idee Form annahm, den Feiertag zu nutzen, um wie in Hoyerswerda "Asylanten" zu vertreiben. Einer ihrer Molotowcocktails durchschlug ein Fenster im Erdgeschoss des örtlichen Geflüchtetenheims und explodierte im Kinderzimmer einer libanesischen Familie. Zwei Mädchen im Alter von acht und fünf Jahren erlitten schwerste Verbrennungen. Die ältere der beiden kämpfte tagelang um ihr Leben.

Mit den Nachrichten vom Brandanschlag in Hünxe und der weiteren Gewalt dieses Tages machten Schmerz und Trauer, wie es später der Musiker Reinhard Mey in einem Lied beschrieb, für viele Menschen aus dem Feiertag einen Tag von Wut und Entsetzen. Mit der Schlagzeile "Tag der Einheit: Tag des Hasses" gab die "Tageszeitung" diesem Gefühl am nächsten Morgen Ausdruck. Vom "Tag des Hasses" sprach auch die "Bild", als sie am 4. Oktober 1991 unter der Schlagzeile "Asylantenkind (8) angezündet. Schande!" den Brandanschlag von Hünxe auf ihren Titel setzte. Und nicht zufällig nutzte Stefan Hermlin an ebendiesem Tag zum ersten Mal die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991".

Zur kollektiven Selbstbetrachtung hatte der neue Nationalfeiertag eingeladen. Doch statt des glücklich geeinten Landes im Herzen Europas war am ersten Jahrestag seiner "Wiedervereinigung" ein Land zu besichtigen, in dem Staat und Gesellschaft einer Welle rechter Gewalt hilflos gegenüberstanden, die just am "Tag der Deutschen Einheit" endgültig eskalierte. Dieser Erfahrung gab die Wendung vom "Deutschen Herbst 1991" Ausdruck.

Kollektive Selbstverständigung im geeinten Deutschland

Die im Herbst 1991 aufgeworfenen Verunsicherungen und Fragen blieben virulent, auch als die Gewaltwelle zunächst wieder abebbte und Wilhelm Heitmeyer beobachtete, wie Anfang 1992 die "abnehmende Zahl von Überfällen auf Ausländer und Heime von AsylbewerberInnen" vielen politischen Beobachtern "Entspannung zu signalisieren" schien. Doch mit der erneuten Eskalation der Gewalt in Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992 gewannen diese Fragen endgültig überragende Bedeutung für das Selbstverständnis des geeinten Landes. Das Pogrom von Rostock und die ihm folgende Gewaltwelle schockierten die Öffentlichkeit gerade als Wiederholung umso heftiger: als zweites, schlimmeres Hoyerswerda. War die Gewalteruption im vergangenen Jahr nicht einmalig gewesen? Wurden Rassismus und Gewalt zu einer dauerhaften Erscheinung im "neuen" Deutschland?

Die Erfahrungen und Perspektiven von 1991 gingen 1992 in einen erneuten langen Herbst voller Gewalt auf. Auch deshalb ist uns der "Deutsche Herbst 1991" heute kaum als besonderer historischer Moment in Erinnerung. Er ist aufgehoben im Rückblick auf "die fremdenfeindliche Gewaltwelle der frühen 1990er Jahre", in der die Gewalt zwischen "Hoyerswerda" und "Solingen" als einheitliches Phänomen erscheint. Sich ihrer besonderen Ausgangssituation bewusst zu werden, erweist sich allerdings für ein historisches Verständnis sowohl der Gewalt als auch des vereinigten Deutschland insgesamt als zentral: Aus ihr heraus wird verständlich, dass die Serie rechter Anschläge und Angriffe in den Jahren 1991 bis 1993 in doppelter Weise einen prägenden, bislang zu wenig beachteten Moment des Übergangs in das neu vereinte Deutschland bildete. Die Gewalt zerstörte Menschenleben und schuf vielerorts ein Klima der Angst und Bedrohung, das vor allem in Ostdeutschland Jahre anhielt. Es prägte den Alltag vieler derjenigen Menschen massiv, deren Zugehörigkeit zur "Vereinigungsgesellschaft" in den 1990er Jahren strittig war und denen auch Geschichtswissenschaft und kollektive Erinnerung bislang nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet haben. Zugleich schuf die Gewalt einen Diskussionsraum, in dem grundsätzlich über Selbstbild und Selbstverständnis der neuen Bundesrepublik gestritten wurde. Diskussionen über die Ursachen des unerwarteten Gewaltausbruchs, der in deutlicher Spannung zur Freude über die "Friedliche Revolution" von 1989/90 stand, waren so immer auch Auseinandersetzungen um grundsätzliche Fragen gesellschaftlicher Zugehörigkeit, staatlicher Ordnung und der Wertvorstellungen des neuen Landes.

Dies zeigt sich besonders deutlich an der verbreiteten Tendenz, in den hitzig geführten Debatten der Zeit die Gewalt als ostdeutsch zu begreifen. Diese Tendenz ergab sich nicht einfach daraus, dass rechte Gewalttäter in der DDR seit 1989 neue Handlungsspielräume gewonnen hatten und in einer neuen, nicht mehr staatlich kontrollierten Öffentlichkeit in zuvor ungekannter Weise sichtbar geworden waren. Vielmehr schlug sich gerade hier die Konstellation im Herbst 1991 nieder, die den Blick in besonderem Maße auf die "neuen Länder" lenkte. Die Ursachen der Gewalt vor allem im Erbe der DDR zu verorten – in ihren autoritären Erziehungsstilen, ihrem formelhaften Antifaschismus und einer vielfachen Abschottung gegen "Fremde" –, war dabei attraktiv, weil es die Gewalt als ein Problem beschrieb, das nicht aus dem neu entstehenden Deutschland heraus entstand. Anders sah es aus, wenn vor allem die Umbrucherfahrung im Osten als Quelle der Gewalt begriffen wurde. Entstand hieraus ein Gefühl, das Neid gegenüber Geflüchteten und gesellschaftlichen Minderheiten schürte, die vermeintlich mehr öffentliche Anerkennung und staatliche Zuwendungen erhielten als man selbst? Diese Deutung band die Gewalt ein in die laufenden Debatten um "Wessis" und "Ossis", die Wertschätzung von Lebensleistungen in Ost und West und ihre auch finanzielle Würdigung.

In gleicher Weise entwarfen auch andere Interpretationen der Gewalt allgemeine Gesellschaftsdeutungen, indem sie die Eskalation mal mehr, mal weniger der geeinten Bundesrepublik zurechneten. In der heftigen politischen Diskussion zwischen Regierung und Opposition um Zuwanderung und das Asylrecht, die von vielen kritischen Beobachtern als Brandbeschleuniger wahrgenommen wurde, ging es nicht zuletzt um Fragen von Zugehörigkeit und die Grenzen der Nation in einer Zeit beschleunigter Globalisierung und Migrationsbewegungen.

Eine populäre Deutung der Gewalt als Ergebnis einer Jugendkrise, die durch eine Erschütterung jugendlicher Lebenswelten junge Männer zur Gewalt führen würde, lässt sich demgegenüber als Abrechnung auch mit der "alten" Bundesrepublik und der liberal-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft verstehen, in der verlässliche soziale Bindungen und kulturelle Referenzrahmen verloren gegangen seien. Schließlich lenkte auch die Deutung der Gewalt als Ausdruck verfestigter rechtsextremer Organisationsstrukturen und Mentalitäten die Aufmerksamkeit auf Defizite der bundesdeutschen Vergangenheit und einer unzureichenden Abkehr von düsteren Traditionen der deutschen Geschichte.

Perspektiven

All diese Erklärungsansätze, die bis heute die Diskussion bestimmen, erfassen jeweils wichtige Dimensionen des Gewaltgeschehens. Doch für eine angemessene historische Aufarbeitung und ein öffentliches Erinnern an die Gewalt ist es entscheidend, nicht nur wie die Zeitgenossen ihren Ursachen nachzugehen, sondern zugleich sichtbar zu machen, welchen bleibenden Einfluss die Gewalt mit den um sie kreisenden Debatten für das Selbstverständnis des vereinten Deutschland entfaltete. Hierbei ist es essenziell, die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf jene Menschen zu richten, denen die Gewalt galt: Geflüchtete und andere Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die oftmals bereits seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, Homosexuelle, Obdachlose, alternativ gekleidete Jugendliche und andere, die ins Fadenkreuz der Gewalt gerieten. Bei ihnen prägten sich durch Anschläge und Angriffe ausgelöste Gefühle der Angst und Bedrohung, der Verletzung und Schutzlosigkeit häufig besonders tief in ihre Vorstellungen von dem nun geeinten Land ein, in dem sie lebten.

Ihre bislang weitgehend übersehenen Erfahrungen gilt es heute einzubeziehen in die Geschichtserzählungen und Erinnerungsdebatten um die 1990er Jahre, die noch immer vor allem vom Blick auf das Verhältnis von "Wessis" und "Ossis" geprägt sind. Im neuen Deutschland fanden in den 1990er Jahren nicht nur "Ost" und "West" ein spannungsvolles Miteinander. In der Auseinandersetzung mit der Gewalt begann das Land auch langsam damit, sich seiner gesellschaftlichen Vielfalt bewusst zu werden. Dies ging einher mit zahllosen Verletzungen, Blindstellen und Diskriminierungen. Sie gilt es aufzuarbeiten. In Reaktion auf die Gewalt entstanden ab Herbst 1991 aber auch neue Gruppen und Bündnisse, die einen zivilgesellschaftlichen Kontrapunkt gegen die Gewalt setzen wollten und die Erinnerung an die Opfer der Gewalt zum Ausgangspunkt für Forderungen nach einer neuen demokratischen Kultur machten. Beides prägt die Bundesrepublik bis heute. Verstanden als zeitgenössische Wendung, kann uns der "Deutsche Herbst 1991" in diesem Sinne an einen entscheidenden Moment der jüngeren bundesdeutschen Geschichte erinnern, an dem gesellschaftliche Konflikte und Debatten begannen, die wir bis heute führen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wilhelm Heitmeyer, Vorbemerkungen zur 4. Auflage (Dezember 1991), in: ders., Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim–München 1995, S. 6.

  2. Zit. nach Verstummen und Wegblicken, in: Frankfurter Rundschau (FR), 5.10.1991, S. 4.

  3. Alle folgenden Zahlenangaben nach Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1991, Bonn 1992, S. 74–83; dass. (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1992, Bonn 1993, S. 68–81; Frank Neubacher, Fremdenfeindliche Brandanschläge, Mönchengladbach 1998, S. 420f.

  4. Ausführlich hierzu Christoph Wowtscherk, Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht? Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991, Göttingen 2014.

  5. Vgl. Jörg Bergmann/Claus Leggewie, Die Täter sind unter uns. Beobachtungen aus der Mitte Deutschlands, in: Kursbuch "Deutsche Jugend" 113/1993, S. 7–37.

  6. Vgl. Lorenzo Gavarini, Erinnern ohne Vergangenheit, 19.9.2022, Externer Link: http://www.zeit.de/zett/politik/2022-09/rechtsextreme-gewalt-samuel-kofi-yeboah-saarlouis-brandanschlag-fluechtlingsheim.

  7. Vgl. Bundeskriminalamt, Abteilung Staatsschutz: Lagebild über fremdenfeindliche Straftaten insbesondere gegenüber Asylbewerbern, Ausländern und Aussiedlern, Stand: 21.11.1991, in: Bundesarchiv, B 106, 317913.

  8. Vgl. Bergmann/Leggewie (Anm. 5), S. 10, S. 15f.

  9. Vgl. etwa Asyl-Anschläge wie Terror verfolgen, in: FR, 9.10.1991, S. 1.

  10. Vgl. Anschläge auf Asylbewerber mit Flächenbrand verglichen, in: FR, 10.10.1991, S. 4.

  11. Vgl. Hanna Laura Klar, Deutschland im Herbst, in: Michael Töteberg (Hrsg.), Metzler Film Lexikon, Stuttgart–Weimar 2005, S. 164f.

  12. Tagesschau, 3.10.1991, Externer Link: http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video986516.html.

  13. Zit. nach Dokumentation: Der Bundespräsident zum ersten Tag der deutschen Einheit, in: Deutschland Archiv 11/1991, S. 1229–1232.

  14. Zit. nach Dokumentation: Ansprache der Bundestagspräsidentin Dr. Rita Süssmuth, in: ebd., S. 1233–1236.

  15. Andrea Herrmann, Ursachen des Ethnozentrismus in Deutschland. Zwischen Gesellschaft und Individuum, Wiesbaden 2001, S. 15.

  16. Vgl. Ingrid Müller-Münch, Biedermänner und Brandstifter. Fremdenfeindlichkeit vor Gericht, Bonn 1998, S. 31–60.

  17. Vgl. Reinhard Mey, 3. Oktober '91, in: Alles geht, 1992.

  18. Wilhelm Heitmeyer, Ruhe nach dem Sturm?, in: taz. Die Tageszeitung, 23.1.1992, S. 12.

  19. Uwe Backes, Extremismus und politisch motivierte Gewalt im vereinten Deutschland, in: Brigit Enzmann (Hrsg.), Handbuch Politische Gewalt. Formen, Ursachen, Legitimation, Begrenzung, Wiesbaden 2013, S. 363–395, hier S. 372.

  20. Vgl. zum Folgenden bald ausführlich Till Kössler/Janosch Steuwer (Hrsg.), Brandspuren. Das vereinte Deutschland und die rechte Gewalt der frühen 1990er Jahre, Bonn 2023.

  21. Vgl. hierzu etwa Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020 sowie das Sonderheft Jalta 6/2019: "Ver|un|einigung".

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ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
E-Mail Link: janosch.steuwer@paedagogik.uni-halle.de

ist Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
E-Mail Link: till.koessler@paedagogik.uni-halle.de