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Das Ende der Republik Berg-Karabach

Redaktion

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Im September nahm Aserbaidschan die selbsternannte Republik Berg-Karabach militärisch ein. Etwa hunderttausend Armenier sind seitdem auf der Flucht. Die Ursachen für den Konflikt reichen weit zurück.

Auf einer Autobahn bei Goris (Armenien) stauen sich Autos ethnischer Armenier, die aus Berg-Karabach fliehen. (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Ashley Chan)

Am 19. September starteten aserbaidschanische Militäreinheiten einen Angriff auf die international nicht anerkannte Republik Berg-Karabach, die völkerrechtlich zum Territorium Aserbaidschans gehört. Das Land nahm die Region schnell ein, einen Tag später erklärte Berg-Karabach faktisch die Kapitulation. Am 28. September kündigte die Republik Berg-Karabach durch ein Regierungsdekret ihre Auflösung zum 1. Januar 2024 an. Seit der Einnahme durch Aserbaidschan sind mehr als 100.000 ethnische Armenier aus dem Gebiet geflohen.

Schon Ende 2022 war die einzige Zufahrtstraße nach Berg-Karabach von Aserbaidschan blockiert worden. Dadurch war die Region abgeschnitten von medizinischer Versorgung und der Einfuhr von Lebensmitteln und Hilfsgütern. Viele Menschen hungerten. Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Interner Link: Internationalen Strafgerichtshofs, sprach angesichts der Blockade von einem Genozid. Armenien hat Aserbaidschan vor dem Internationalen Strafgerichtshof im Zusammenhang mit dem Militäreinsatz zur Eroberung Berg-Karabachs der „ethnischen Säuberung“ beschuldigt. Aserbaidschan bestreitet die Vorwürfe.

Seit Jahren kam es zwischen Armenien und Aserbaidschan immer wieder zu Konflikten um die Region Berg-Karabach. Die seit Ende des Ersten Karabach-Kriegs (1992-1994) geltende Waffenstillstandslinie war Interner Link: 2020 in einem sechswöchigen Krieg verschoben worden, Aserbaidschan erlangte die Kontrolle über ein zuvor von Armenien kontrolliertes Gebiet sowie über ein Drittel Berg-Karabachs.

Nagorny-Karabach. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Aserbaidschanischer Anspruch, armenische Bevölkerung

Aserbaidschan forderte Berg-Karabach seit langem zurück. Die Armenier hingegen betrachten die Region als ihr historisches Siedlungsgebiet. Auf 4.400 Quadratkilometern lebten dort bis zuletzt etwa 140.000 Menschen, mehrheitlich ethnische Armenier. Die von ihnen 1992 ausgerufene Republik Berg-Karabach mit eigener Verfassung, Regierung und Hauptstadt (Xankändi, armenisch: Stepanakert) wurde jedoch von keinem Staat völkerrechtlich anerkannt – auch nicht von Armenien.

Der Konflikt zwischen dem islamisch geprägten Aserbaidschan und dem christlich-orthodoxen Armenien besteht seit rund 100 Jahren. Nach osmanischer und russischer Herrschaft wurden beide Länder (wie auch das benachbarte Georgien) nach dem Ersten Weltkrieg zunächst unabhängig, dann aber mit der Entstehung der Sowjetunion von dieser einverleibt. Berg-Karabach, das in der kurzen Zeit seiner Unabhängigkeit armenisch war, gehörte seit 1923 zur Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Armenier werfen den Aserbaidschanern vor, die armenische Bevölkerung Berg-Karabachs während der Sowjetzeit systematisch unterdrückt zu haben.

Pogrome, Krieg und Flucht

Unter sowjetischer Herrschaft schwelte der Konflikt weiter, brach aber lange nicht offen aus. Im Februar 1988 eskalierte der Streit schließlich gewaltsam: Bei anti-armenischen Ausschreitungen in der aserbaidschanischen Stadt Sumgait kamen mehrere Dutzend Menschen ums Leben. Als Armenien und Berg-Karabach Ende 1989 ihre Vereinigung erklärten, kam es in Aserbaidschan zu weiteren Übergriffen auf die armenische Bevölkerung. 1990 entsandte Russland Truppen in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku. Diese Intervention führte jedoch nicht zu einer Beruhigung der Lage, sondern eskalierte zu einem blutigen armenisch-aserbaidschanischen Krieg.

Mit Unterstützung paramilitärischer Einheiten aus Berg-Karabach und russischer Truppen eroberte Armenien nicht nur den direkten Zugang nach Berg-Karabach, sondern besetzte auch etwa 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums als "Schutzpuffer". Die dort lebenden Aserbaidschaner und Kurden wurden vertrieben.

Wie viele Menschen in diesem Krieg bis zum Waffenstillstand 1994 starben, ist umstritten, da beide Seiten den Konflikt und die Opferzahlen politisch instrumentalisieren. Manfred Quiring ging 2009 in einem Interner Link: Beitrag für "Aus Politik und Zeitgeschichte" von rund 50.000 Toten aus, in einer Externer Link: Studie für die Stiftung Wissenschaft und Politik aus dem Jahr 2013 schätzten Uwe Halbach und Franziska Smolnik ihre Zahl auf 30.000. Der Krieg zwang rund 800.000 Aserbaidschaner sowie 300.000 Armenier zur Flucht aus den umkämpften und besetzten Gebieten.

Kaukasische Konflikte

Der Kaukasus ist mit seiner kulturellen und religiösen Vielfalt auf einer relativ kleinen Fläche von 440.000 Quadratkilometern ein konfliktreiches Gebiet: Hier konkurrieren nicht nur sunnitische und schiitische Strömungen des Islam mit der christlich-orthodoxen Religion, in der Ebene vor dem Nordkaukasus leben auch buddhistische Kalmücken und in den Bergen Dagestans und Aserbaidschans wiederum sind Bergjuden zu Hause. Noch vielfältiger sind die nationalen Wurzeln der rund 30 Millionen Kaukasier, zwischen 40 und 50 Völker werden dort gezählt. Im Kern geht es bei den Konflikten um politische und wirtschaftliche Interessen, meist um Landbesitz: Landwirtschaftlich nutzbare Flächen sind im Kaukasus knapp.

Interner Link: Mehr Informationen zu Armenien finden Sie hier. Interner Link: Mehr Informationen zu Aserbaidschan finden Sie hier.

Die Rolle Russlands

Dass es nun zur Invasion kam, hängt Beobachtern zufolge auch mit einer veränderten geopolitischen Lage zusammen. Russland, das lange als Schutzmacht Armeniens auftrat, ist durch den Angriff auf die Ukraine in einer geschwächten Position. Die Verbindungen Russlands über Aserbaidschan in den Iran und nach Südasien haben für das Land an Bedeutung gewonnen, insbesondere um westliche Sanktionen zu umgehen. Russland ist daher an guten Beziehungen mit Aserbaidschan und seinem Partnerland Türkei interessiert. Dies hatte Russland bereits vor dem Einmarsch mit Blick auf Berg-Karabach deutlich gemacht: Im Juli erklärte der russische Außenminister Lawrow, die Armenier in Berg-Karabach müssten die Herrschaft Aserbaidschans anerkennen. Die neue Haltung zeigte sich auch beim Einmarsch Aserbaidschans: Die russischen Truppen, die seit 2020 zur Friedenssicherung in Berg-Karabach stationiert sind, griffen nicht in den Konflikt ein.

Nach dem Ausbleiben einer russischen Reaktion auf die aserbaidschanische Invasion, hat sich Armenien zuletzt vorsichtig von Russland distanziert. Anfang Oktober stimmte das armenische Parlament einem Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof zu. Damit müsste Armenien Wladimir Putin im Falle eines Staatsbesuchs ausliefern. Eine völlige Abkehr Armeniens von Russland ist jedoch unwahrscheinlich. Das Land ist aufgrund der Konflikte mit Aserbaidschan Interner Link: und der Türkei regional isoliert und politisch, wirtschaftlich und militärisch weiterhin stark von Russland abhängig. Russland ist der wichtigste Handelspartner Armeniens, russische Unternehmen dominieren neben dem Energiesektor wichtige Industrie- und Dienstleistungsbranchen. Mehrere hunderttausend armenische Arbeitsmigranten verdienen ihren Lebensunterhalt in Russland und schicken Geld in die Heimat. Seit 2014 ist Armenien zudem Teil der von Russland vorangetriebenen Interner Link: Eurasischen Wirtschaftsunion, in der keine Zölle erhoben werden.

Auch militärisch ist Armenien eng mit Russland verbunden. Armenien ist das einzige südkaukasische Mitglied der Interner Link: Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) der ehemaligen Interner Link: GUS-Staaten, Russland unterhält einen Militärstützpunkt im Land. Im Konflikt mit Aserbaidschan wurde russische Militärhilfe als überlebenswichtig angesehen. Gleichzeitig ist Russland einer der wichtigsten Waffenlieferanten Aserbaidschans. Durch die Ausbeutung seiner Erdölvorkommen hat Aserbaidschan neue Einnahmequellen erschlossen, die es dem Land ermöglichten, seine Militärausgaben von 228 Millionen US-Dollar im Jahr 2004 auf 2,29 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022 zu verzehnfachen.

Die Rolle der Türkei

Dass Aserbaidschan in den letzten Jahrzehnten so stark aufrüsten konnte, hängt auch mit seinem Bündnispartner Türkei zusammen. Zwischen beiden Ländern besteht seit den 1990er Jahren eine enge Militärkooperation. Die Türkei half Aserbaidschan beim Aufbau seiner Streitkräfte, die türkische Armee berät Aserbaidschan bis heute in militärischen Fragen. Drohnen aus der Türkei halfen Aserbaidschan dabei, den Krieg gegen Armenien 2020 zu gewinnen. Beide Länder führen regelmäßig gemeinsame Militärübungen durch. Manche Sicherheitsexperten sprechen aufgrund der engen Verbindung sogar von „zwei Staaten, eine Armee“. Auch wirtschaftlich sind die beiden Länder eng verbunden – die Türkei ist Aserbaidschans zweitgrößter Handelspartner bei Im- und Exporten. Zudem ist die Türkei für Aserbaidschan die wichtigste Route für Energieexporte nach Europa.

Für die Türkei ist die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan wichtig, weil ihr das Land eine Verbindung nach Interner Link: Zentralasien unter Umgehung Interner Link: Irans bietet. Auch ideologisch passt die Zusammenarbeit gut ins Konzept, da die Türkei immer wieder die Gemeinschaft der Turkvölker betont und sich darum bemüht, diese Zusammenarbeit in der 2009 gegründeten Organisation der Turkstaaten zu institutionalisieren.

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