Seien es die "Ruhrpolen" im 19. Jahrhundert, die Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg, oder südosteuropäische Arbeitsmigranten in den 1950er bis 1970er Jahren –
Parallel zu dieser Erkenntnis ließ sich seit Anfang des Jahrtausends ein zweites Phänomen beobachten: In Debatten um einen sogenannten "Neuen Antisemitismus" wurde die Frage aufgeworfen, ob Judenfeindschaft in Deutschland mittlerweile vor allem ein Problem bei Menschen mit Migrationshintergrund sei.
Tatsächlich hatte es in den letzten Jahren zahlreiche antisemitische Vorfälle gegeben, bei denen die Täter einen arabischen und/oder muslimischen Hintergrund hatten. Dazu gehörten tätliche Angriffe im öffentlichen Raum, wie etwa in Berlin 2012 auf den Rabbi Daniel Alter oder auf einen Kippa tragenden Mann, der 2018 mit einem Gürtel geschlagen wurde. Dazu gehörten aber auch der antisemitische Antizionismus auf politischen Kundgebungen, wie etwa zum al-Quds-Tag oder nach der Ankündigung Donald Trumps 2017, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen. Protestierende setzten hier Israelfahnen in Brand.
So erschreckend diese Vorfälle auch sind: Empirisch lässt sich die Vorstellung, dass es sich beim Antisemitismus primär um ein Importprodukt handelt, nicht halten.
Antisemitische Einstellungen und Straftaten
In repräsentativen Meinungsumfragen der letzten Jahre stimmten etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung klassisch antisemitischen Aussagen zu. Bis zu einem Drittel stimmt mit sogenannten sekundärantisemitischen Aussagen überein, in denen sich Erinnerungs- und Schuldabwehr in Bezug auf den Holocaust ausdrücken. Dazu gehört etwa der Satz "Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus". Die Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus findet sich bei über einem Fünftel der Bevölkerung.
2019 wurden 2032 antisemitische Straftaten registriert. Bei 93,4 Prozent geht die Polizei von rechtsextrem motivierten Täter*innen aus – die in der großen Mehrheit keinen Migrationshintergrund haben.
Trotzdem ist es natürlich wichtig, sich die unterschiedlichen antisemitischen Gefährdungslagen vor Augen zu führen, um den jeweiligen Herausforderungen adäquat begegnen zu können. Denn antisemitische Einstellungen sind auch unter Menschen mit Migrationsgeschichte verbreitet. Wie sollte es auch anders sein bei einer Ideologie mit einer langen Geschichte, einer weltweiten Verbreitung und einer – aufgrund ihres welterklärenden Anspruches – hohen Attraktivität. Doch wer ist überhaupt gemeint, wenn es um "migrantischen" Antisemitismus geht?
Wer ist hier "Migrant"?
Mehr als ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland – beziehungsweise mindestens ein Elternteil von ihnen – stammt aus einem der EU-Mitgliedstaaten und ein weiteres Drittel aus einem anderen europäischen Staat.
Überdies zeigen sich in den öffentlichen wie akademischen Debatten große Klassifikationsschwierigkeiten, insofern als Termini wie "Migranten", "Ausländer", "Araber", "Muslime" durcheinandergeworfen werden. Doch über welche Menschen und welches Phänomen sprechen wir eigentlich? Nur weil jemand aus einem mehrheitlich muslimischen Land geflohen ist, bedeutet das etwa nicht, dass diese Person auch Muslim*in ist. Geht es auch um Deutsche, die zum Islam konvertiert sind, oder nur um Eingewanderte? Sind es auch deren Nachkommen, und bis zu welcher Generation? Und wenn man bedenkt, dass Muslim*innen aus Indonesien, Indien oder Nigeria in den aktuellen Debatten selten problematisiert werden, es also scheinbar um ein arabisches Phänomen geht, stellen sich klassifikatorische Folgefragen: Was ist mit den nicht-arabischen Minderheiten in arabischen Ländern oder arabischen Christ*innen? Derlei Fragen müssen bedacht werden beim Thematisieren von Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft.
Empirische Studienergebnisse: In den Herkunftsländern...
Die Empirie weist inmitten dieser Fragen weiterhin Forschungslücken auf. Die meisten Studien betrachten zum Themenkomplex "Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft" Muslim*innen oder Menschen mit arabischem Migrationshintergrund. Zum Verständnis der Einstellungen, die etwa Geflüchtete in ihrem ideologischen Gepäck mitbringen – denn bei ihnen kann angenommen werden, dass sich Haltungen nicht bis zu ihrer Ankunft signifikant geändert haben –, lohnt dabei ein Blick in die Herkunftsländer. In der Region Mittlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) hielten in einer 2014 weltweit durchgeführten Umfrage der amerikanischen Bürgerrechtsorganisation "Anti-Defamation League" drei Viertel der Befragten mindestens sechs von elf abgefragten negativen Stereotype über Jüdinnen und Juden für "wahrscheinlich wahr" – im Vergleich zu einem weltweiten Durchschnitt von 26 Prozent. So gaben dort etwa 75 Prozent an, dass sie "Juden hassen, aufgrund der Art wie Juden sich eben benehmen".
Welche dieser Einstellungen dann tatsächlich auch "im Gepäck" der Neuankommenden verbleiben, ist eine andere Frage. Nichtrepräsentative Studien zu den Einstellungen Geflüchteter 2015/2016 haben gezeigt, dass antisemitische Einstellungen in der Tat unter Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan verbreitet waren. Viele Befragte dachten, dass Jüdinnen und Juden reich und mächtig seien, vertraten eine unbedingte und absolute Ablehnung Israels oder relativierten das Ausmaß des Holocaust. Gleichzeitig wollten viele auch mehr über die Geschichte des Holocaust oder Israels wissen. Und einige berichteten von Veränderungen ihrer Sichtweisen durch die Flucht, da sie nach Ankunft in Deutschland mit anderen Haltungen oder Erinnerungskulturen konfrontiert waren, oder da sich das von Projektionen aufgeladene Feindbild "Israel" an der Realität des Krieges und seiner Akteure hatte messen müssen. Und für manche waren diese Themen schlichtweg egal, Jüdinnen und Juden eben "ganz normale Leute".
...und in Deutschland
Kenntnisse über die Herkunftsländer können Hinweise zum Verständnis von Neueingewanderten geben. Tatsächlich sind bei Migrant*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Zustimmungswerte zum "klassischen" Antisemitismus höher als unter deutschen Staatsbürger*innen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, wie etwa die "Mitte"-Studie 2012 zeigen konnte. Beim sekundären Antisemitismus hingegen sind sie wesentlich niedriger.
Dieselbe Studie zeigte 2012 auch bei Muslim*innen – von denen nicht alle, aber die meisten einen Migrationshintergrund haben – höhere Zustimmungswerte zum klassischen und niedrigere zum sekundären Antisemitismus.
Verschränkungen und Umgangsweisen
Diese Unterschiede innerhalb vermeintlich homogener Gruppen – etwa "der Muslime" – zeigten sich auch in Hinblick auf die Frage, mit welcher Motivation, Intention und auf welche Art Antisemitismus artikuliert wird.
Nun wird niemand Antisemitin, weil sie Rassismus erlebt hat. Eine derartige Kausalität existiert nicht. Dennoch kann das Wissen über die Mechanismen und Wirkungsweisen von Rassismus in Deutschland auch zu einem Verstehen – im Sinne von "Begreifen", nicht von "Verständnis-Üben" – von Antisemitismus unter marginalisierten Gruppen beitragen. Wenn etwa hier aufgewachsene Jugendliche im Alltag das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie trotz deutschem Pass kein selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft sind, oder wenn ihre Geschichte(n) im Schulunterricht durch Lehrer*innen wenig berücksichtigt werden, dann bieten sich andere Identitäten als scheinbar attraktive Alternative an: als "Araber", "Palästinenser" oder "Muslim" etwa. Das kann zu einer undifferenzierten Identifikation mit den Palästinenser*innen als muslimische Opfer von Unterdrückung im Nahostkonflikt beitragen, die wiederum Israel- und Judenhass befördern kann. Dieser Antisemitismus dient der Provokation, Selbstethnisierung und Identitätsstabilisierung – was ihn nicht weniger gefährlich macht. Oder wenn Geflüchtete ihre realen lebensweltlichen Erfahrungen – etwas mit dem Nachbarstaat Israel – aus den Herkunftsländern mit nach Deutschland bringen; oder ihr Mangel an Wissen über den Holocaust – über den es in ihren Herkunftsländern keine ernsthafte Vermittlung in der Schule gab – im deutschen Kontext als Relativierung verstanden wird.
Wie auch immer die jeweiligen Hintergrundbedingungen aussehen mögen, klar ist: Antisemitismus muss entgegengetreten werden, egal von wem er mit welcher Motivation ausgeht. Dies nicht zu tun, weil jemand einer Minderheit angehört, wäre paternalistisch und würde das Problem nicht lösen. Unterschiedliche Motive erfordern aber unterschiedliche Vorgehensweisen in Bildungsarbeit und Politik. Dem Schuldabwehrantisemitismus eines deutschen Rechtspopulisten muss möglicherweise mit anderen Argumentationsformen begegnet werden als dem antizionistischen Antisemitismus eines gerade eingewanderten Syrers. Eine 80-jährige herkunftsdeutsche Christin bezieht ihre Judenfeindschaft womöglich aus anderen Quellen als ein konvertierter Islamist.
Aber eine vorschnelle Kategorisierung von Menschen ist dafür wenig hilfreich. Denn gemein ist allen Ausdrucksformen, dass sie in der deutschen Gesellschaft stattfinden. Diejenigen, von denen medial oft die Rede ist – junge Menschen mit arabischem Migrationshintergrund – sind zumeist in Deutschland geboren oder aufgewachsen. Zwar sind sie auch geprägt von Einflüssen aus ihren Familien, sozialen Medien oder dem Satellitenfernsehen, doch fand ihre Schul- und Ausbildung in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen statt. Das Wissen über den historischen und die Sensibilisierung für den gegenwärtigen Antisemitismus scheinen allgemein im schulischen Kontext nicht hinreichend vermittelt zu werden: So weiß mehr als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Schüler*innen in Deutschland nicht, was "Auschwitz-Birkenau" ist.