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Krise und Kritik des verständigungsorientierten Diskurses

Simone Jung Victor Kempf

/ 16 Minuten zu lesen

Die zivile und produktive Streitlust, von der der verständigungsorientierte Diskurs zehrt, ist einem zunehmend unversöhnlichen Kulturkampf gewichen. Wie damit umzugehen ist, beantworten diskurstheoretische und radikaldemokratische Ansätze unterschiedlich.

Mit den tiefgreifenden medialen Transformationen und der Zuspitzung gesellschaftspolitischer Konflikte ist die Selbstsicherheit einer liberaldemokratischen Hegemonie infrage gestellt. Die Pluralität konfligierender Perspektiven und miteinander konkurrierender Hegemonien offenbart neue Kulturkämpfe, in denen die Ordnung der Kultur selbst zur Disposition steht. Diese Verschärfung der Konflikte ist nicht von den Entwicklungen der Digitalisierung zu trennen. Das Internet hat die Art und Weise, wie allgemeine Problemlagen sichtbar und Konflikte ausgehandelt werden, maßgeblich verändert. Vor allem die sozialen Medien haben neue Möglichkeiten der Partizipation etabliert. Sie haben eine Vielzahl von Gegen- und Teilöffentlichkeiten hervorgebracht und zu einer Pluralisierung der öffentlichen Debatten beigetragen. Getrieben von der Sorge um eine „Verrohung“ der Debattenkultur wird zugleich der Ruf nach einer rational geführten Diskussion jenseits von „Erregungskulturen“ lauter. Nicht wenige Beobachter:innen sprechen von einer Fragmentierung und Polarisierung des öffentlichen Raums, die durch die sozialen Medien massiv befördert würden und zur Bildung epistemischer „Filterblasen“ und „Echokammern“ führten.

Der angesichts dieser Entwicklungen erneut geforderte „verständigungsorientierte Diskurs“ hatte vor allem in den 1980er und 1990er Jahren Konjunktur. Mit dem Ende des Kalten Krieges und einer allgemeinen Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas schien die gesellschaftliche Verständigung über das Allgemeinwohl, bei aller Differenz in weltanschaulichen Fragen, immer mehr möglich. In dieser optimistischen Phase schien es realistisch, die Pluralität und Streitlust moderner Gesellschaften zu bewahren, ohne auf eine diskursiv erzielte und stets im Prozess befindliche Einigkeit zu verzichten. Die Differenzen, so der allgemeine Eindruck, ließen sich auf dem Wege der Diskussion friedlich ab- und ausgleichen.

Heute stellt sich die Situation anders dar: Die Differenzen haben sich teilweise so weit radikalisiert, dass ihre Vermittlung in weite Ferne rückt. Die zivile und produktive Streitlust, von der der verständigungsorientierte Diskurs zehrt, scheint einem zunehmend unversöhnlichen „Kulturkampf“ gewichen zu sein. Zwischen rechtspopulistischen Bewegungen und linken Identitätspolitiken prallen Weltdeutungen und Vorstellungen des sozialen Zusammenlebens aufeinander, die sich nicht auf Basis eines allgemein geteilten lebensweltlichen Grundverständnisses zusammenbringen lassen. Dasselbe zeigt sich etwa im Verhältnis zwischen Klimaaktivist:innen und den renitenten Verteidiger:innen „unseres Wohlstands“, allen wissenschaftlichen Evidenzen zum Trotz.

Diese Tendenzen haben in den vergangenen Jahren zu unterschiedlichen Ansätzen geführt, wie mit dieser Verschärfung der Konflikte umzugehen ist und wie heute debattiert werden kann oder sollte. Dabei wird auf der einen Seite recht beharrlich am verständigungsorientierten Diskurs festgehalten. Erst kürzlich hat der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die identitätspolitisch aktiven Teile seiner Partei ermahnt, mehr Gemeinsinn walten zu lassen und die Verständigung mit der vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft nicht zu verspielen. Das Verständigungsmotiv tritt hier konservativ zutage: Bestimmte Besonderheiten und partikulare Ansprüche – etwa Forderungen nach diversitätssensibler Sprache – sollen nicht zu laut werden, um ein scheinbar bewährtes gesellschaftliches Einverständnis nicht in Gefahr zu bringen. Konflikte sollen, so scheint es, ausgespart werden, um Konsens zu sichern.

Demgegenüber hat sich in den vergangenen Jahren ein diskurspolitischer Ansatz herausgebildet, der sich vom Ziel einer Verständigung zwischen den politischen Lagern verabschiedet. Ein verständigungsorientierter Diskurs „mit Rechten“ sei gerade nicht zu suchen, sondern vielmehr zu vermeiden, so diese Position. Er würde „den Rechten eine Bühne bieten“ und ihre Perspektive dadurch bereits legitimieren. Anstelle einer Verständigungssuche im gemeinsamen Diskurs tritt die dezidierte symbolische Demarkierung in Form eines linksliberalen Cordon sanitair („Sperrgürtel“). Die eigene „kulturelle Hegemonie“ soll nicht in der diskursiven Auseinandersetzung verteidigt und erweitert werden, sondern durch metapolitische Eingriffe im Modus der schieren Selbstbehauptung. In der Diskursführung nähert man sich so der Rechten an und „framed“ mit strategisch eingesetzten Narrativen die öffentliche Debatte rhetorisch auf eine gewünschte Weise. Scheint dieser Ansatz auch offensiver, werden bei näherer Betrachtung aber auch hier Konflikte ausgespart, die unbearbeitet vor sich hin gären und sich an anderer Stelle gewaltvoll zu entladen drohen.

Bevor über den gegenwärtigen Zustand der Öffentlichkeit und ihre Debattenkultur nachgedacht werden kann, soll zunächst das Modell des verständigungsorientierten Diskurses wie auch die Kritik daran skizziert werden. Vor allem poststrukturalistische Perspektiven haben seit den 1980er Jahren die Konsensorientierung des deliberativen Diskursmodells kritisiert und in ihrer Vorstellung von Demokratie den Dissens in den Vordergrund gerückt.

Verständigungsorientierter Diskurs

Das generelle Verständnis eines verständigungsorientierten Diskurses ist vor allem durch Jürgen Habermas’ Diskursethik geprägt, die besonders in Deutschland breiten Eingang in die politische Kultur gefunden hat. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns geht Habermas von folgender Beobachtung aus: Die Gesellschaft reproduziert sich über ökonomische Zwänge und staatliche Machtausübung, bedarf jedoch für ihr Fortbestehen immer auch eines erheblichen Maßes an intersubjektiver Verständigung. In diesem Verständigungsprozess einigen sich die Gesellschaftsmitglieder auf Geltungsansprüche, das heißt, sie stimmen darüber überein, dass etwas der Fall ist (kognitiver Geltungsanspruch) oder ein Gebot besteht, dem man Achtung schenken soll (normativer Geltungsanspruch). Zudem tauschen sie Gefühlseindrücke aus, für die sie Authentizität beanspruchen (ästhetischer Geltungsanspruch). In der intersubjektiven Verständigung sind die unterschiedlichen Geltungsansprüche zumeist miteinander verschmolzen. Zudem werden sie im Alltag in der Regel naiv hingenommen, ohne selbst als solche hervorzutreten und hinterfragt zu werden.

Dies ändert sich, sobald ein Dissens entsteht. Dann kann die Kommunikation nicht länger im Modus alltäglicher Gewissheiten fortgesetzt werden, sondern muss auf die Ebene des Diskurses wechseln. Hier werden die zuvor unproblematischen Geltungsansprüche problematisiert und zum Gegenstand der gemeinsamen Erörterung gemacht. Im Diskurs werden Argumente vorgetragen, abgewogen, widerlegt und revidiert. Dies geschieht in der Absicht, den verloren gegangenen Konsens in reflektierter Form wiederherzustellen oder durch einen neuen und besseren Konsens zu ersetzen. Insofern ist der Diskurs als Ort des Streits trotzdem an Verständigung orientiert.

Diskurse können nach Habermas an den unterschiedlichsten Stellen im sozialen Gefüge entstehen. Sie können ganz nahbar aus alltäglichen Situationen heraus erwachsen, etwa im unspektakulären Tischgespräch daheim oder unter Freunden, das sich zur angeregten Diskussion steigert. Diskurse können aber auch in professionellen Kontexten aufkommen und sich dort verstetigen. Das geschieht meist fokussiert auf ein Sachgebiet und einen besonderen Typus von Geltungsansprüchen. So wird in wissenschaftlichen Diskursen die generelle Umstrittenheit von kognitiven Geltungsansprüchen methodisch kontrolliert auf Dauer gestellt und bearbeitet. Juristische Diskurse nehmen sich auf entsprechende Weise normativer Geltungsansprüche an, der Diskurs der Kunstkritik streitet ums Ästhetische.

Entscheidend dabei ist: Beim verständigungsorientierten Diskurs in einem habermasianischen Sinne handelt es sich um keinen geschlossenen, sondern einen offenen Prozess. Diskurse können ihre rationalisierende Funktion innerhalb der Gesellschaft nur dann erfüllen, wenn sich alle Betroffenen zwanglos an ihnen beteiligen können. Erst wenn alle Stimmen gehört und auf Augenhöhe abgewogen worden sind, erweist sich die Berechtigung eines strittig gewordenen Geltungsanspruchs. Diskurse haben für Habermas einen öffentlichen Charakter: Sie entgrenzen sich von ihren stets nur vorläufigen Rändern her. Sie beziehen Menschen mit ein, die zuvor noch nicht mitdiskutiert haben, gleichwohl aber von der verhandelten Sache und dem sozialen Zusammenhang betroffen sind. So expandiert idealerweise die Tischdiskussion in der Familie oder unter Freunden zum Salon oder zur Tischgesellschaft, in der die allgemeine Bedeutung der scheinbar privaten Thematik von möglichst vielen Seiten diskutiert wird. Aber auch die Ortsverbände politischer Parteien, der Stammtisch oder die spontan entstehenden Foren und Versammlungen sozialer Bewegungen sind Ausdruck davon, dass aus dem Alltag heraus entstehende Diskussionszusammenhänge ihre Kreise ziehen und sich verstetigen.

All diese Teilöffentlichkeiten stehen wiederum in einem größeren Zusammenhang. Sie beanspruchen das, was sie für richtig befinden, in einem umfassenderen Diskurs zu profilieren und zu verteidigen. Das passiert etwa auf dem Wege journalistischer oder literarischer Publikationen und medialer Auftritte, sei es im klassischen Feuilleton, in Talkshows oder durch den Straßenprotest „on air“, der sich nicht in körperlicher Gestik erschöpft, sondern auch Aussagen, Ansprüche und Argumente transportiert. Wissenschaftliche, juristische und ästhetische Expertendiskurse stehen dem Laien zwar nicht in gleicher Weise offen. Aber auch ihre Erkenntnisse fließen in einen umfassenderen öffentlichen Diskurs ein und müssen sich dort einem allgemeinen Publikum gegenüber legitimieren, um wirkliche Autorität zu erlangen. Als Reflexionsform intersubjektiver Verständigung entstehen Diskurse überall in der Gesellschaft. Sie werden stets an Ort und Stelle entfacht, schließen sich aber in Habermas’ Augen am Ende des Tages zu einem universellen Diskurs zusammen, in dem sich die gesamte Gesellschaft begegnet und argumentativ darum streitet, was Einverständnis verdient.

Radikaldemokratische Kritik

Neben diesem deliberativen Diskursmodell etablierte sich in den späten 1960er Jahren eine „poststrukturalistische“ Diskurstheorie, die vor allem vom französischen Philosophen Michel Foucault geprägt wurde. Poststrukturalistische Diskurstheorien beabsichtigen, die Exklusionseffekte moderner Vernunftvorstellungen zum Vorschein zu bringen, „z.B. den Ausschluss des Wahnsinns aus der vorherrschenden Kultur oder die Abwertung von Subjektivierungsformen, die sich bestehenden Geschlechtskategorien (wie ‚Mann‘ oder ‚Frau‘) nicht fügen“. Der hier zur Anwendung kommende Diskursbegriff meint einen sprachlich produzierten Sinnzusammenhang, der aus historisch variablen Machtverhältnissen hervorgeht und diese gleichzeitig reproduziert.

In dieser Denktradition haben sich seit den 1980er Jahren neue Strömungen in der Politischen Theorie ausgebildet, die als „radikaldemokratisch“ beschrieben und mit Autor:innen wie Jacques Derrida, Claude Lefort, Jacques Rancière, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe verbunden werden. Entgegen deliberativer Konzepte, die sich am Ideal eines universellen und daher rationalen Konsenses in Bezug auf soziale und politische Fragen orientieren, stellen diese Ansätze den Dissens ins Zentrum ihres Demokratieverständnisses. Auch der verständigungsorientierte Diskurs im Sinne Habermas’ entsteht aus einem Dissens heraus. Radikaldemokratische Ansätze denken den Dissens jedoch grundlegender: Aus ihrer Sicht besteht der Dissens immer schon und lässt sich nicht durch einen Diskussionsprozess auflösen; es geht vielmehr um die Sichtbarmachung und Vertiefung von Dissens, den es nicht in einen Konsens zu überführen, sondern vielmehr auszuhalten gilt. Gegenüber Fortschrittserzählungen wird die Unvermeidlichkeit von Ausschlüssen behauptet, die immer wieder aufs Neue stattfinden und politische Auseinandersetzungen um das soziale Zusammenleben auslösen können. Konsens wird angesichts einer „fortdauernden Konfrontation“ als „vorübergehendes Resultat einer vorläufigen Hegemonie“ begriffen – „eine Stabilisierung von Macht, die immer auch eine Form von Exklusion mit sich bringt“ und diesbezüglich herausgefordert werden kann.

Zudem hegen radikaldemokratische Theorien einen weiten Begriff von Politik: Während zumindest politische Diskurse bei Habermas stärker um parlamentarische Entscheidungen und das politische System zentriert sind, zielt der politische Streit in radikaldemokratischen Ansätzen vor allem auf Praktiken und Institutionen jenseits des Staates ab. Von „radikaler“ Demokratie ist die Rede, weil „Demokratie als Lebensform einer gemeinsamen Verfügung über alles, was die Gemeinschaft betrifft, auf möglichst viele Bereiche des Lebens auszuweiten“ ist. In diesem Verständnis lässt sich Politik „nicht innerhalb der Grenzen einer Institution, eines gesellschaftlichen Teilsystems oder eines diskursiven Feldes einschließen, sondern fällt zusammen mit dem Kampf um die Ziehung dieser Grenzen“. Es ist der „Streit um das Dasein der Politik, durch den es Politik gibt“, wie Jacques Rancière schreibt. Diskurse beginnen in dieser Sichtweise nicht notwendigerweise über eine argumentative Auseinandersetzung, sondern darüber, dass sich marginalisierte oder abweichende Stimmen durch disruptive Praktiken der Verkörperung und der Versammlung überhaupt erst Gehör verschaffen und durch ihre Involvierung in das öffentliche Leben zu einer Vervielfachung an Sichtweisen und Themen in der politischen Debatte beitragen.

Damit verbunden ist die Annahme, dass sich der demokratische Streit über die richtige Verfassung der politischen Gemeinschaft nicht durch universelle Normen und Rationalitätsstandards schlichten lässt. In einem postfundamentalistischen Verständnis wird weder Vernunft als „natürlich“ vorausgesetzt, noch können sich demokratische Gesellschaften jemals eine finale Form geben. Sowohl die Idee einer einheitlichen Vernunft als auch die Demokratie selbst sind demnach historisch-kontingent und resultieren aus einer machtvollen Durchsetzung bestimmter Normen, Werte und Weltanschauungen. Sie sind also Ergebnis der gesellschaftlichen Praxis selbst und müssen als solche immer wieder neu hergestellt und verteidigt werden. Aufgrund der Kontingenz einer jeden politischen Ordnung ist der Ort der Macht aus radikaldemokratischer Sicht „ein leerer Ort“, an dem fortwährend Kämpfe um die richtige Form geführt werden. Der Kampf um die Instituierung des Sozialen wird dann weniger als Gefahr oder Ausnahme begriffen, sondern als ein selbstverständlicher Teil des Politischen, in dem sich die Ordnung einer Gesellschaft immer wieder neu herstellt und fortlaufend modifiziert.

In diesem Zusammenhang ist das Konzept des „agonistischen Pluralismus“ von Chantal Mouffe aufschlussreich. Mit diesem normativen Demokratiemodell plädiert sie für die Bildung eines „agonistischen“ Forums, in dem „verschiedene hegemoniale politische Projekte miteinander konfrontiert werden könnten“. Ihr geht es darum, tiefliegende Antagonismen zu entfalten und im agonalen, also im kämpferisch-streitbaren Konflikt zwischen legitimen Gegner:innen auszuhandeln. Mit Ernesto Laclau geht sie davon aus, dass das Politische antagonistisch verfasst ist und sich in politischen Kämpfen über das soziale Zusammenleben immer wieder aktualisieren kann. Über die Normen und Werte, die uns als politisches Gemeinwesen zusammenhalten, kann aus dieser Sicht keine letztgültige Einigkeit erlangt werden. Der Antagonismus ist untilgbar und wird durch die Errichtung einer agonalen Ordnung nur vorübergehend „gezähmt“. Es wird eine Ordnung des politischen Wettkampfs (Agon) auf Basis eines „konflikthaften Konsenses“ geschaffen, die jedoch jederzeit infrage gestellt werden kann. Ein Beispiel hierfür ist der liberaldemokratische Grundkonsens gleicher Freiheit, den linke, sozialdemokratische, liberale und konservative Parteien unterschiedlich auslegen, aber gleichermaßen anerkennen. Allerdings kann dieser historisch eingespielte Konsens auch insgesamt zurückgewiesen werden – und der allem Politischen zugrundeliegende Antagonismus kehrt mit ganzer Wucht zurück.

Kulturkampf als konstruktiver Streit?

Chantal Mouffe ist davon überzeugt, dass eine Verneinung des Politischen in seiner antagonistischen Form die Gefahr birgt, dass anstelle eines Kampfes zwischen Gegner:innen ein Krieg zwischen Feind:innen ausgetragen wird. Der Antagonismus drohe sich dann gewaltsam etwa auf der Basis ethnisch, religiös oder nationalistisch begründeter Identitäten zu aktualisieren und „populare Kämpfe“ zu forcieren, wie sie sich angesichts eines erstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus gegenwärtig ereignen. Jenseits einer geteilten normativen Basis der politischen Auseinandersetzung prallen linksliberale und rechtspopulistische Kräfte unversöhnlich aufeinander. In Zeiten eines wieder entbrannten Kulturkampfes scheint erneut die Stunde des Politischen zu schlagen. Blickt man mit Mouffe auf die gegenwärtige Situation, so geht es darum, sich dieser Wiederkehr des Antagonismus mit aller Konsequenz zu stellen und aus der radikalen Umstrittenheit des Politischen heraus erneut eine agonale Ordnung des demokratischen Wettstreits herzustellen. Die liberaldemokratische Ordnung muss als Ganze ihre bisherige Hegemonie gegen rechtsgerichtete Gegenentwürfe durchsetzen und im Zuge dessen auch neu entwerfen.

Folgt man Mouffes radikaldemokratischer Perspektive, so kann dies nicht in erster Linie auf dem Wege einer Diskussion geschehen, die im moralischen Register geführt wird. Das sei beispielsweise der Fall, wenn statt politischer Analyse und einer agonalen Auseinandersetzung mit dem Gegner eine moralische Verurteilung erfolgt und der Aufstieg des Rechtspopulismus eilfertig als „rechtsextrem“ etikettiert und damit ein Feindbild geschaffen werde. Über Sieg und Niederlage im Kampf um die kulturelle Hegemonie entscheiden für sie nicht zuletzt „affektive Kräfte, die am Ursprung der kollektiven Formen von Identifikation“ stehen. Das in dieser Hinsicht stärkere Lager kann mehr Menschen mobilisieren und setzt sich so gegenüber der Gegenseite durch. Liberale und linke Parteien wie auch soziale Bewegungen sollen den Kampf um die Herzen der Menschen aufnehmen und den populistischen Affekten der Rechten linkspopulistische Leidenschaften und Identifikationsmöglichkeiten entgegensetzen.

Dieser Blick auf die heutigen Konfrontationen mag Betrübnis und Besorgnis hervorrufen, scheint aber empirisch zuzutreffen: Blickt man auf die artikulierten Normen und Werte, scheint jeder common ground zwischen linksliberalen und rechtspopulistischen Kreisen abwesend und ein verständigungsorientierter Diskurs somit kaum möglich. Wenn nationalistische und antimoderne Agitatoren den liberaldemokratischen Grundkonsens universeller Menschenrechte und gleicher Freiheiten nicht anders auslegen, sondern schlichtweg verneinen und durch eine hierarchische Welt- und Sozialordnung austauschen wollen, fehlt augenscheinlich die Grundlage, auf der agonal oder vernünftig gestritten werden kann.

Aber vielleicht existiert diese gemeinsame Grundlage doch – allerdings auf einer anderen Ebene als jener der artikulierten Normen und Werte. Zwischen den „woken Kosmopoliten“ und den „rechtspopulistischen Bewahrern des Heartlands“ liegen Welten, legt man die explizite Weltanschauung zugrunde. Doch aus Sicht der deliberativen Demokratietheorie sind beide Milieus auch Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, der sie miteinander verbindet, und zwar in Form kommunikativer Beziehungen, die sich im Prinzip jederzeit zu Diskussionen entfachen lassen. Will man mit Jürgen Habermas die Möglichkeiten des verständigungsorientierten Diskurses ergründen, so muss man den Staat, die Schule und andere öffentliche Zonen des unausweichlichen Aufeinandertreffens der ansonsten politisch polarisierten Lebenswelten aufsuchen, genauso wie die private Familienfeier mit den in vielerlei Hinsicht entfernten Verwandten. Überall hier werden ständig Geltungsansprüche erhoben und anerkannt. Überall kann es zu ihrer Testung in Diskursen kommen, die nur deshalb hitzig beziehungsweise dissensual geführt werden, weil es in ihnen um Verständigung geht.

Oft erlebt man die Blockade oder den Abbruch solcher Diskurse, oder es findet gar kein Austausch von Argumenten, wie leidenschaftlich auch immer, statt, sondern ein Aneinandervorbeireden, um die eigene Position zu wahren. Doch aus habermasianischer Perspektive bedeutet eine solche Situation kein Aufeinanderprallen genuin unvermittelbarer Welten in einem „grundlosen“ Kampf um die Hegemonie. Vielmehr erweist sie sich als Versuch der Diskursvermeidung, unternommen von jenen, die sich der Kritik nicht stellen können. Die Umwandlung einer bereits bestehenden kommunikativen Beziehung in den offenen und immer weiter ausgreifenden Diskurs wird blockiert, weil man die argumentative Austragung eines Konflikts vermeiden will. Folgt man dieser Deutung der gegenwärtigen Lage, so gilt es, diese ganz spezifische Konfliktscheu durch eine Politik des verständigungsorientierten Diskurses aufzuscheuchen. Dann muss es darum gehen, genau jene mit der Diskussion darüber, was wahr und richtig ist, zu konfrontieren, die sich durch „Lügenpresse“-Rufe und Verschwörungstheorien verpanzern und dieser Diskussion zu entziehen versuchen.

Damit lassen sich zwei Weisen festhalten, wie der gegenwärtige Kulturkampf eingeordnet und angegangen werden kann: Mit Jürgen Habermas kann man von kommunikativen und oft konsensuellen Sozialbeziehungen ausgehen, die sich dem Anspruch nach zur offenen Diskussion transformieren lassen, wobei genau dies durch den Rückzug in Filterblasen und aggressive Abwehrschlachten blockiert wird. Der Konflikt ist stark, spitzt sich zu, wird aber gerade nicht im Diskurs ausgetragen, sondern gärt so weit vor sich hin, bis er sich schließlich gewaltsam entlädt. Der Ausweg hieraus läge darin, den verständigungsorientierten Diskurs mit dem politischen Widerpart zu forcieren. Ein solcher Diskurs verbindet beides: die Anerkennung des Anderen als Dialogpartner und die mitunter schonungslose Artikulation von Dissens, denn nur derjenige Geltungsanspruch verdient allgemeine Anerkennung, der alle Einwände und Vorwürfe übersteht. Der emphatische Konsensbegriff, der dem Ansatz des verständigungsorientierten Diskurses zugrunde liegt, stellt die politischen, sozialen und kulturellen Konflikte also gerade nicht still, wie es von radikaldemokratischer Seite behauptet wird, sondern stachelt sie an. Doch handelt es sich nach dieser Sichtweise um rational lösbare Konflikte, die historisch aufbrechen, aber nicht unbedingt immer schon am Grund aller politischen Ordnung bestehen.

Im Unterschied dazu lässt sich mit Chantal Mouffe und anderen radikaldemokratischen Ansätzen ein unauflösbarer Antagonismus zwischen widerstreitenden Vorstellungen von Politik und Gesellschaft identifizieren, der nur unter gewissen, historisch günstigen Umständen ruhiggestellt und vorübergehend in einen Agonismus umgewandelt werden kann. Vor dieser Herausforderung stehen wir scheinbar heute erneut: Wie lässt sich die gegenwärtige Konfrontation zwischen letztlich unversöhnlichen Hegemonieprojekten doch zu einer agonistischen Auseinandersetzung zivilisieren? Auf dem Weg vom Antagonismus zum Agonismus stützt sich Mouffe nicht auf normative Vernunftstandards, die in kommunikativen Alltagspraktiken operieren, auch nicht auf Argumente und rationale Einsicht, aus der sich eine geteilte Basis ergeben würde. Stattdessen gerät die affektive Dimension in den Fokus: Bevor überhaupt wieder ein Streit geführt werden kann, der einem verständigungsorientierten Diskurs zumindest ähnelt, müssen Affekte und Identitäten durch rhetorische Praktiken generiert beziehungsweise politische Forderungen gestellt werden, die zur politischen Teilhabe mobilisieren und die unversöhnlichen Positionen miteinander in Konfrontation bringen. Die affektmobilisierende Wir/Sie-Beziehung als identitätsstiftende Kraft gilt es in dieser Hinsicht nicht zu überwinden oder zu verschleiern, sondern auf eine pluralistische Weise zu etablieren, sie öffentlich und zum Gegenstand politischer Debatte zu machen. Grundlage für die Schaffung eines agonalen Streitraums bildet der mitunter langwierige Prozess des Erkennens und Anerkennens der Andersheit des Anderen, auch wenn die Kontrahent:innen einsehen, dass es für den Konflikt keine rationale Lösung geben wird. Laut Mouffe ist es diese grundlegend antagonistische und affektpolitische Ebene, die konstitutiv für demokratische Politik ist und die Habermas und andere Vertreter:innen deliberativer Demokratie zu sehr vernachlässigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Simone Jung/Victor Kempf, Entgrenzte Öffentlichkeit. Eine interdisziplinäre Einführung, in: dies. (Hrsg.), Entgrenzte Öffentlichkeit. Debattenkulturen im politischen und medialen Wandel, Bielefeld 2023, S. 7–24; Simone Jung, Hybride Öffentlichkeiten. Debattenkulturen zwischen klassischem Feuilleton und Twitter, in: ebd., S. 45–68.

  2. Vgl. Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018.

  3. Vgl. Eli Pariser, The Filter Bubble: What the Internet Is Hiding From You, London 2011; Cass Sunstein, #Republic: Divided Democracy in the Age of Social Media, Princeton 2017; Hartmut Rosa, Demokratischer Begegnungsraum oder lebensweltliche Filterblase? Resonanztheoretische Überlegungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert, in: Martin Seeliger/Sebastian Sevignani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit. Leviathan Sonderband 37, Baden-Baden 2021, S. 252–274; Jürgen Habermas, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin 2022.

  4. Vgl. Jean L. Cohen/Andrew Arato, Civil Society and Political Theory, Cambridge MA 1994. Kritisch hierzu Konzepte der „Postdemokratie“, die von einer Entpolitisierung der öffentlichen Debatte im Zuge eines Mangels an erkennbaren Alternativen zur neoliberalen Hegemonie ausgehen. Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt/M. 2002; Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008; Chantal Mouffe, „Postdemokratie“ und die zunehmende Entpolitisierung, in: APuZ 1–2/2011, S. 3ff.

  5. Vgl. Andreas Reckwitz, Kulturkonflikte als Kampf um die Kultur: Hyperkultur und Kulturessenzialismus, in: ders., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 29–62.

  6. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/M. 1995 [1981].

  7. Vgl. ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995, S. 102ff.

  8. Vgl. ders. (Anm. 6), S. 44ff.

  9. Vgl. ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 437.

  10. Vgl. ebd., S. 435ff.

  11. Maeve Cooke, Diskurstheorie, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Berlin 2009, S. 238–243, hier S. 238.

  12. Vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973.

  13. Chantal Mouffe, Pluralismus, Dissens und demokratische Staatsbürgerschaft, in: Martin Nonhoff (Hrsg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 41–53, hier S. 45f.

  14. Dagmar Comtesse et al., Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, Berlin 2020, S. 12.

  15. Reinhard Heil/Andreas Hetzel, Die unendliche Aufgabe, in: dies. (Hrsg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, S. 7–25, hier S. 16.

  16. Rancière (Anm. 4), S. 27.

  17. Vgl. Heil/Hetzel (Anm. 15), S. 9.

  18. Vgl. Claude Lefort, Democracy and Political Theory, Cambridge 1988, S. 17.

  19. Vgl. Oliver Flügel-Martinsen, Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution, Gesellschaftsordnung, radikale Demokratie, Wiesbaden 2017, S. 14.

  20. Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt/M. 2007, S. 10.

  21. Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1986.

  22. Vgl. Mouffe (Anm. 20), S. 29ff.

  23. Ebd., S. 87f.

  24. Ebd., S. 94f.

  25. Ebd., S. 34f.

  26. Vgl. Victor Kempf, Die Öffentlichkeit im Modus systematisch verzerrter Kommunikation. Mit Habermas über ihn hinaus, in: Jung/Kempf (Anm. 1), S. 195–226.

  27. Vgl. Mouffe (Anm. 20), S. 30; dies., Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 31.

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ist promovierte Soziologin und lehrt an der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg.
E-Mail Link: simone.jung@leuphana.de

ist promovierter Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin.
E-Mail Link: victor.kempf@hu-berlin.de