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Traumatisiert | Naher Osten | bpb.de

Naher Osten Editorial „Alles außer Hetze ist sagbar“. Ein Gespräch über die Auswirkungen des Nahostkonflikts in Berliner Klassenzimmern Traumatisiert. Die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober - Essay Der Gazastreifen im Nahostkonflikt Vernetzt, fragmentiert. Terrororganisationen im iranischen Schattenreich Irans neues Selbstverständnis. Zwischen innenpolitischer Transition und außenpolitischem Aufstieg Der Nahe Osten zwischen Aufbruch und Staatszerfall. Ein Rückblick Im weltpolitischen Machtgefüge Der 7. Oktober als Wendepunkt? Neue Impulse für eine Friedenslösung - Essay

Traumatisiert Die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober

Jenny Hestermann

/ 11 Minuten zu lesen

Der Anschlag der Hamas am 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft erschüttert. Nicht nur die Verzweiflung über das Schicksal der Geiseln wiegt schwer. Auch das historische Schutzversprechen des Staats scheint gebrochen.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist in Israel eine neue Zeitrechnung angebrochen. Es wird in Tagen gerechnet. 30, 54, 132, 146 Tage. So lange sind die Geiseln nunmehr in Gaza gefangen gehalten. Die Initiative "Bring Them Home Now" rechnet die Anzahl auf allen Kanälen vor, trägt sie auf die zentralen Plätze in Tel Aviv und Mitte Februar sogar bis nach Den Haag. Die Traumatisierung der Gesellschaft lässt sich in verschiedenen Stufen nachzeichnen. Zunächst allmähliches Erkennen und Entsetzen im Laufe des schwarzen Samstags am zweiten Sukkot-Feiertag, als das Ausmaß des Überfalls noch nicht klar war, aber von Stunde zu Stunde offenbarer wurde. Dann das Warten zwischen mehreren Tagen und Wochen, bis alle Vermissten und Toten identifiziert waren. Und schließlich, erst Wochen später, die Anzahl und Namen der Geiseln, die täglich stieg, bis sie festgesetzt werden konnte und man die Identität aller Entführten kannte.

Früh brach sich die Wut Bahn über das gebrochene Schutzversprechen des Staats gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. So war bereits am Nachmittag des 7. Oktober offenbar geworden, dass Geheimdienste und Armee kolossal versagt hatten. Weder hatten sie den Angriff kommen sehen, noch hatten sie Warnungen ernst genommen, noch reagierten sie am Tag selbst schnell genug, um den Terroristen der Hamas direkt Einhalt zu gebieten. So waren es hauptsächlich Zivilisten oder Einzelpersonen der Armee, die auf eigene Faust in den Süden eilten, um den Überfall auf die Kibbuzim und Dörfer einzudämmen. Heldengeschichten kursierten über Väter, die eigenhändig ihre Söhne retteten wie etwa der Ex-General Noam Tibon. Reservisten, die sich spontan mit Auto und Waffe auf den Weg machten, die Schutztruppen der Kibbutzim, die beherzt eingriffen, aber hoffnungslos in der Unterzahl waren. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die Horrortaten live auf auf den privaten Social Media Accounts der Opfer gestreamt, nachdem die Terroristen sich der Smartphones bemächtigt hatten. Das Grauen erreichte damit ungefiltert nächste Freunde und Verwandte, und Menschen weltweit.

Es folgten Beerdigungen über Beerdigungen. In einer so eng verflochtenen Gesellschaft wie der israelischen kennt jeder jemanden, der jemanden kennt, dessen Verwandte, Freunde oder Bekannte ermordet oder entführt wurden. Seit dem 7. Oktober wurden über 200.000 Israelis im eigenen Land evakuiert und mussten in der neu deklarierten Sicherheitszone ihre Häuser räumen. Immer noch sind 56.000 von ihnen in Hotels untergebracht, mit keinerlei Gewissheit darüber, ob und wann sie zurückkehren können. Auf die Bevölkerungszahl in Deutschland umgerechnet würde das Massaker über 10.000 Tote bedeuten, mehr als 2.100 Entführte, mehr als eine halbe Million, die auch nach vier Monaten kein Zuhause mehr haben.

Mit jedem Tag wuchs die Wut auf die Regierung und über das Versagen der Institutionen. Zynischerweise hatten bereits in den Auseinandersetzungen um die sogenannte Justizreform der Regierung Netanjahu im Frühjahr 2023 viele aus der Armee und aus Ex-Geheimdienst-Kreisen vor einem ganz ähnlichen Szenario gewarnt. Der Riss in der Gesellschaft, der sich in den vergangenen Jahrzehnten bereits abzeichnete, der sich aber mit dem Antritt der extrem rechten Regierung seit Ende 2022 drastisch vertieft hat, bedeute ein erhöhtes Sicherheitsrisiko, so die Warnungen. So drohten etwa Reservisten und Eliteeinheiten im Frühjahr 2023 mit Streiks. Nur wurde nie mit der mörderischen Gefahr aus Gaza gerechnet, sondern eher aus dem Libanon und durch mit Iran verbündete Milizen. Der Anschlag am 7. Oktober bestätigte diese Sorgen. In seiner Ungeheuerlichkeit, die seitdem vielfach beschrieben wurde, lag dieses Szenario allerdings außerhalb des Vorstellbaren. Hervorzuheben ist das Ausmaß sexueller Gewalt, das die "New York Times" nach zwei Monaten ausführlich dokumentierte.

Schmerz und Vertrauensverlust

Ein Großteil der israelischen Gesellschaft fühlte sich in der Folge mehrfach betrogen: von der eigenen Regierung mit ihrem leeren Schutzversprechen (deren Versagen andauert, solange nicht alle Geiseln wieder zu Hause sind), von den Institutionen wie Armee und Polizei, in die ein Restvertrauen trotz der zuständigen rechtsextremen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir bestanden hatte, und ebenso von der internationalen Gemeinschaft, die in großen Teilen nach wenigen Tagen der Betroffenheit mit einem Achselzucken, Relativierungen und schmallippigen Verweisen auf den "Kontext" der israelischen Besatzung reagierte, in den man das Massaker einordnen müsse. Insbesondere die israelische Linke, die selbst seit Jahrzehnten gegen ebendiese Besatzung kämpft und alle seit 2009 bestehenden Regierungen unter Netanjahu ausgiebig kritisiert hat, sah sich von ihren internationalen Netzwerken und Freunden hintergangen. "Believe all women, unless they are Israelis" war der bittere Hashtag, nachdem die Organisation UN Women zwei Monate brauchte, um sich mit Vergewaltigungen und Schändungen israelischer Opfer durch die Hamas zu befassen.

"Das größte Pogrom an Juden seit dem Holocaust" nannten hingegen viele israelische Stimmen das Massaker, in dem Versuch, sowohl die Ohnmacht jener zu beschreiben, die sich am 7. Oktober bis zu 24 Stunden lang versteckt gehalten hatten, bis Rettung kam, als auch die internationale Gemeinschaft wachzurütteln, deren Aufmerksamkeit mit Beginn der israelischen Gegenschläge vermehrt auf Gaza lag, während der Kriegsanlass vergessen oder nebensächlich schien. Die unerschütterliche Unterstützung der Biden-Administration wich bald Mahnungen, die Reaktion im Zaume zu halten – laut politischen Analysten auch dem Versuch des US-Präsidenten geschuldet, im Wahljahr 2024 mit vermutlich knappem Ergebnis linke Wählerstimmen nicht zu verprellen.

Seit jeher besteht im modernen Israel die Devise und die Erkenntnis, die der früheren Ministerpräsidentin Golda Meir zugeschrieben wird: Wenn es darauf ankommt, sind wir alleine und können uns nur auf uns selbst verlassen. Inwieweit diese Wahrnehmung auf der Realität im Nahen Osten oder dem kollektiven intergenerationellen Trauma des Holocaust beruht, kann hier nicht beurteilt werden. Wie so oft mischen sich martialische Rhetorik (Nie wieder Opfer sein, koste es was es wolle) mit der schwer zu negierenden Tatsache, wie fragil und isoliert doch der jüdische Staat lange Zeit war.

Nach der offenkundigen Spaltung der israelischen Demokratie im Kontext der Justizreform im Frühjahr 2023 hatten der Schock und das kollektive Leid seit dem 7. Oktober zunächst eine einende Wirkung. Linke wie Rechte, Siedler und Kibbuzniks kämpften plötzlich gemeinsam gegen die äußere Gefahr. Seit Anfang 2024 mehren sich allerdings wieder die Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu. Die Forderung nach Neuwahlen wird immer lauter. Mittlerweile hört man nicht nur im linken Spektrum den Vorwurf, der Ministerpräsident nutze die Fortführung des Kriegs, um sich an der Macht zu halten. Es gebe keine Strategie, wohin der Krieg führe, was das Ziel sei und wann er enden solle.

Zu Beginn der israelischen Bodenoffensive wurden zwei Parolen ausgegeben – die Hamas ultimativ besiegen und die Geiseln befreien. In einer Situation von "nur schlechten Optionen" wird immer deutlicher, dass ein Teil der Gesellschaft die unbedingte Befreiung der Geiseln fordert, auch um den Preis der Freilassung palästinensischer Gefangener, darunter viele verurteilte Mörder – und ein anderer auf den absoluten militärischen Sieg setzt.

Dramatischer als im Zuge der Justizreform sind nun die bekannten Animositäten zwischen dem Pro- und dem Anti-Netanjahu Lager zurück, nun geht es nicht mehr "nur" um den demokratischen oder autokratischen Charakter des Lands, sondern in der Wahrnehmung der allermeisten Israelis schlichtweg um Leben und Tod. War die Gesellschaft wegen der Justizreform bereits zerrissen, so hatten das Massaker und die Geiselnahmen zwei gegenläufige Auswirkungen: Lagerübergreifende Solidarisierung im Krieg und mit den Geiseln einerseits, andererseits die Desillusion darüber, dass die beiden ausgegebenen Kriegsziele von Anfang an nicht zusammenpassten.

Die Aufarbeitung des militärischen und politischen Versagens sowie des Traumas wurde für die Zeit nach dem Krieg versprochen. Während der laufenden Kampfhandlungen sei dies kontraproduktiv. Der Prominenteste, der keinerlei Verantwortung für das Regierungsscheitern übernahm, war Netanjahu selbst, was ihn in den Augen vieler in der bis ins Mark erschütterten Bevölkerung noch tiefer sinken ließ.

Gespaltene Gesellschaft

Anhand des politischen Dilemmas um die verbliebenen Geiseln im Gazastreifen lassen sich unterschiedliche gesellschaftliche Visionen ablesen: Während für die einen das Leben der Entführten ein unter Umständen zu zahlender Preis ist, um in Zukunft nicht wieder erpressbar zu sein, ist die Rückholung der Geiseln für die anderen nicht nur das höchste moralische Ziel, sondern auch die notwendige Voraussetzung, um von der inneren Verfasstheit der israelischen Gesellschaft zu retten, was für die Zukunft noch zu retten ist.

Denn das Gewebe der israelischen Gesellschaft wird immer fragiler. Bereits 2015 hatte der damalige Staatspräsident Reuven Rivlin darauf hingewiesen, als er von vier verschiedenen innergesellschaftlichen "Stämmen" sprach, die sich nun, zehn Jahre später, immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Zynischerweise ist es ausgerechnet das eher linksliberale säkulare Friedenslager, das sich traditionell für den Dialog mit den Palästinensern ausspricht und wesentlich die Gesellschaft der Kibbuzim bildet, das nun von der Hamas-Gewalt betroffen ist.

Während nationalreligiöse Stimmen bereits laut von der jüdischen Wiederbesiedlung des Gazastreifens träumen, will das andere, säkulare Lager die Hoffnung auf eine dauerhafte Lösung des Konflikts nicht aufgeben. Nur ist diese durch die tiefe psychische und physische Verletzung der Israelis in immer weitere Ferne gerückt.

In der Tat geht der 7. Oktober als weitere traumatische Erfahrung in die jüdische Geschichte ein – der 1948 unter vielen Widerständen geschaffene israelische Staat versprach Schutz und Wehrhaftigkeit nach Jahrhunderten von Pogromen in Europa und dem Holocaust. Die Israelische Verteidigungsarmee (IDF), die lange als Schmelztiegel für die vielfältigen Einwanderungsgruppen über sozioökonomische Grenzen hinweg fungierte, hat diese Funktion durch die ideologischen Grabenkämpfe in der Gesellschaft weitgehend eingebüßt.

Im Lichte des andauernden Konflikts mit den arabischen Nachbarn und den Palästinensern und häufig wechselnder Regierungskonstellationen trug vor allem ein grundlegendes Vertrauen in die Sicherheitsinstitutionen die israelische Gesellschaft, trotz der immer stärkeren Spaltung der politischen Lager.

Bereits direkt nachdem das Ausmaß der Geiselnahme bekannt wurde beziehungsweise sogar noch davor, schon am 8. Oktober, wurden Stimmen laut, sich auf jeden möglichen Deal mit der Hamas einzulassen. Die Geiseln müssten zurück, lautete die zentrale Forderung: "Alle gegen alle" (kulam tmurat kulam). Man solle der Forderung der Hamas nachkommen und alle palästinensischen Gefangenen in Israel freilassen – und dann den Kampf gegen die Terrororganisation mittel- und langfristig führen, jedoch mit "dem Skalpell" statt mit Bomben. Das bedeutet, die Anführer und Mörder vom 7. Oktober gezielt mit Unterstützung der Geheimdienste aufzuspüren. Auch im Hinblick auf die internationale Meinung über Israel sei dies entscheidend – denn nicht zum ersten Mal im Nahostkonflikt wird dieser Krieg eben auch über Bilder und soziale Medien geführt, mit dem Ziel, die Verurteilung Israels als einseitiger Kriegsverbrecher herbeizuführen. Das Hauptargument jener, die sich für den Austausch einsetzen war jedoch: Die Gefahr für das Leben und die Unversehrtheit der Geiseln ist viel zu hoch, je länger gewartet wird – und im übergeordneten Sinne auch für das Sozialgefüge und die Heilung der israelischen Gesellschaft. Die Regierung Netanjahu und das am 11. Oktober rasch geformte Kriegskabinett verfolgt hingegen eine andere Strategie: Allein auf dem Schlachtfeld lasse sich die Hamas besiegen.

Am Scheideweg

Das brüchige Vertrauen in die Institutionen, vor allem in das Militär, ließ sich kurzfristig kitten und wird sich auch in Zukunft wieder bessern – das Vertrauen in einen Regierungschef, der sich in der schlimmsten Krise seit Staatsgründung an die Macht klammerte, anstatt Verantwortung für das gebrochene Sicherheitsversprechen zu übernehmen, wohl nicht. Über einen Friedensprozess – die permanente Forderung aus dem Ausland – mag niemand in Israel sprechen, solange das Schicksal der verbleibenden Geiseln unklar ist.

Während also noch über 100 Personen in Gaza gefangen sind, verlangt die Weltöffentlichkeit von den Israelis seit Monaten Empathie für die Zivilisten in Gaza. Die Debatte, wie viele Zivilisten, wie viele UNRWA-Mitarbeiter in die Verbrechen der Hamas verstrickt waren und somit nicht als unschuldig gelten können, wird medial mit großem internationalen Interesse und harten Fronten geführt und wird sich fortsetzen, gerade wenn der Verlauf des Kriegs aufgearbeitet wird. Das gleichzeitige Trauern um die eigenen Toten, die tiefe Verletzung des ohnehin immer schon fragilen Schutzversprechens des Staats, das unerträgliche Bangen um das Schicksal der Geiseln, mit einem gleichzeitigen Anerkennen des Leids der Zivilbevölkerung in Gaza, das zwar durch die Hamas verursacht wurde, aber durch die Einsätze der israelischen Armee sich nun tagtäglich verstärkt, ist eine kaum von außen zu begreifende und nachzuempfindende Gemengelage.

In der Folge gesellt sich zu Trauer und Schmerz auch die Sorge hinzu, wie es mit dem Land weitergehen soll. Nie war die Nachfrage nach einem zweiten US-amerikanischen oder europäischen Pass so hoch wie nach der Regierungsbildung im Dezember 2022. Viele, die es sich leisten können, wandern aus, denn immer weniger Israelis sehen in dem Land eine Zukunft für ihre Kinder. Das ist umso tragischer, als alle jüdischen Generationen nach dem Holocaust mit der Überzeugung aufgewachsen sind, nur der eigene Nationalstaat könne auf Dauer Schutz vor Vertreibung und Antisemitismus bieten. Dieses Vertrauen in den Staat als "sicheren Hafen" des jüdischen Volks wurde zwar auch vor dem 7. Oktober in seiner Tragfähigkeit aufgrund des anhaltenden Konflikts mit den Palästinensern unterschiedlich beurteilt – aber nun scheint es gebrochen. Ironischerweise fühlen sich dennoch viele immer noch sicherer in Israel, obwohl auch an der Nordgrenze zum Libanon ein weiterer Kriegsschauplatz zu erwarten ist. Im europäischen und amerikanischen Ausland ist es seit dem Beginn des Kriegs in Gaza zu einem starken Anstieg tätlicher antisemitischer Übergriffe gekommen.

Kann die israelische Gesellschaft also heilen? Aufarbeitung des politischen und militärischen Versagens, das zum 7. Oktober führte, Neuwahlen, um wieder Vertrauen in eine neue Regierung herzustellen, wären sicherlich die ersten Schritte. Die dauerhafte Friedenslösung, die sich – abgesehen von den nationalreligiösen Siedlerkreisen – die meisten zwar wünschen, aber in der Konstellation mit einer schwachen Palästinensischen Autonomiebehörde, dem Vernichtungswillen der Hamas und der eigenen auf Status quo bedachten Regierung nicht für realistisch halten, ist dabei nur ein weit entfernter Horizont.

ist promovierte Historikerin. Sie arbeitet zu deutscher Zeitgeschichte sowie zu Geschichte und Politik Israels. 2016 erschien ihr Buch "Inszenierte Versöhnung. Reisediplomatie und die deutsch-israelischen Beziehungen von 1957–1984."