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Der 7. Oktober als Wendepunkt? | Naher Osten | bpb.de

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Der 7. Oktober als Wendepunkt? Neue Impulse für eine Friedenslösung

Gil Murciano

/ 16 Minuten zu lesen

Der Überfall der Hamas bedeutet das Scheitern des „Konfliktmanagements“, das Israels Regierungen seit Jahren betreiben. Das Ende des Gazakriegs muss deshalb mit einem Paradigmenwechsel einhergehen.

Der 7. Oktober ist nicht nur ein Datum, das für Israelis und Juden rund um die Welt in trauriger Erinnerung bleiben wird, sondern ein tektonisches Ereignis, das den israelisch-palästinensischen Konflikt sowie die Dynamik regionaler Politik verändert.

Der barbarische Angriff der Hamas, seine Brutalität, und die breite Unterstützung, die ihm innerhalb der palästinensischen Öffentlichkeit zuteilwurde, haben das Gewebe der israelisch-palästinensischen Beziehungen auf Jahre hinweg zerrissen. In Israel nimmt man seitdem den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr als einen äußeren, sondern vielmehr unmittelbaren Krieg im eigenen Land wahr, wie man ihn seit der Zweiten Intifada 2000 nicht mehr erlebt hatte. Vier Monate nach diesem schrecklichen Tag ist es immer noch schwierig, dessen Auswirkungen auf die innen- und außenpolitischen Einstellungen in Israel zu erfassen. Allerdings hat der Angriff der Hamas die Nullsummen-Wahrnehmung des Konflikts verstärkt und den Glauben an eine Versöhnung verringert. Jeder Prozess zur Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern sollte zwei wesentlichen Bedürfnissen entsprechen: Grundlegender Sicherheit und einem Gefühl der Hoffnung.

Seit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas ist der israelisch-palästinensische Konflikt zurück auf der internationalen Bühne und wirkt sich neu auf die regionale und globale Sicherheitsarchitektur aus. Die Beteiligung Irans und seiner Stellvertreter an den Ereignissen nach dem 7. Oktober erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer regionalen Eskalation mit globalen Auswirkungen. Seien es jemenitische Huthi, die Handelsrouten über das Rote Meer durch Beschuss gefährden, oder irakische und syrische Milizen, die US-Militärbasen angreifen – die Aggressionen, die von iranisch unterstützten Kämpfern ausgehen, bestimmen nicht nur die regionale Dynamik, sondern auch die internationale Politik. Sie beeinflussen unter anderem globale Versorgungsketten sowie die westlichen Militärhilfen für die Ukraine. Folglich gewinnt der Nahe Osten und der israelisch-palästinensische Konflikt in den USA und im Westen insgesamt wieder an Bedeutung. Die Verlegung zweier Flugzeugträger ins Mittelmeer und die erneuerten diplomatischen Bemühungen der Biden-Regierung und der EU zur Förderung groß angelegter politischer Initiativen in der israelisch-palästinensisch-arabischen Arena zeigen einen Politikwechsel an. Diese Schritte kann man als eine Refokussierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt in den politischen Prioritäten der USA und der EU verstehen, nachdem das Thema lange eher randständig war. Diplomatische Bemühungen zur Vermeidung einer regionalen Eskalation im Nahen Osten dauern an und die Erschütterungen des Kriegs sind offensichtlich nicht nur in Tel Aviv, Damaskus oder Bagdad zu spüren, sondern auch in Brüssel, Berlin, Washington und Kyjiw.

Der 7. Oktober hätte für die israelische Regierung und die Sicherheitskreise ein Tag der Sühne und Selbstreflexion sein müssen. Der 7. Oktober steht für den Zusammenbruch zentraler Paradigmen, die über ein Jahrzehnt die Politik prägten. Er kam für das gesellschaftliche Denken und traditionelle Ansätze einem Erdbeben gleich, von einer Größenordnung, wie man sie seit dem ägyptisch-syrischen Überraschungsangriff auf Israel 1973, exakt 50 Jahre und einen Tag zuvor, nicht mehr erlebt hatte. Der Zusammenbruch alter Paradigmen schafft auch Raum für Wandel. Ähnlich wie der Prozess, der durch den Überraschungsangriff 1973 angestoßen wurde, birgt das Trauma des 7. Oktobers Potenzial für einen politischen Wandel hin zu Frieden und Versöhnung, der über die derzeitige Regierung und ihre politischen Einstellungen hinausreicht – ein Wandel, der das Denken und den politischen Kurs Israels über die nächsten Jahre umgestalten könnte. Die Fähigkeit, eine neue Friedensvision zu schaffen, geht einher mit dem Zusammenbruch des alten Gedanken- und Glaubenssystems.

Doch für solch einen Wandel müssen zwei politische Bedingungen gegeben sein: Erstens die Beseitigung der Hamas als aktive Regierungskraft in Gaza und eine Reduzierung ihrer politischen Macht im Westjordanland. Seit den 1990er Jahren ist die Hamas ein zentraler politischer Störfaktor bei Versuchen, ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen zu erreichen. Ohne sich der Illusion hinzugeben, dass die Hamas schlichtweg aufhört, als politische Kraft zu existieren, muss sie zumindest an den Rand gedrängt werden, damit eine Friedenslösung gelingen kann. Den zweiten Störfaktor stellt die aktuelle, "vollumfänglich rechte" Regierung dar, die unter der Führung Benjamin Netanjahus aus einigen der radikalsten politischen Elemente besteht, die je in einer israelischen Regierung gesessen haben. Unter den Mitgliedern des Kabinetts befinden sich Politiker der extremen Rechten, die aufgrund ihrer Agenda bis vor Kurzem noch als nicht wählbar für die Knesset galten. Die derzeitige Zusammensetzung der Regierungskoalition bremst jede Form der politischen Diskussion über die Zeit nach dem Krieg, ganz zu schweigen von Friedensbemühungen oder einer palästinensischen Unabhängigkeit, dem Schreckensgespenst ihrer Ideologie. Ohne einen politischen Wandel in Israel kann keiner der politischen Schritte, um die es in diesem Beitrag geht, nur ansatzweise Wirklichkeit werden.

Zusammenbruch althergebrachter Paradigmen

Eines der wesentlichen Merkmale der strategischen Politik Israels im Laufe des vergangenen Jahrzehnts war ein starkes Festhalten am Prinzip des Konfliktmanagements im Umgang mit unmittelbaren Bedrohungen und Herausforderungen. Während dieser Zeit haben die verschiedenen Regierungen Entscheidungsvermeidung zur Strategie erhoben und gingen der Diskussion langfristiger Lösungen sorgsam aus dem Weg. Stattdessen konzentrierten sich die Entscheidungsträger im rechten Lager darauf, schleichend eine Realität zu schaffen, etwa in Bezug auf die Besatzung des Westjordanlands und das Verhalten gegenüber der Hamas in Gaza und der Hizbullah im Libanon. Diese Abkehr von dem Versuch, Israels äußere Konflikte zu lösen, hat der Politikwissenschaftler Natan Sachs als Strategie des "Antisolutionismus" bezeichnet, was sich im Deutschen in etwa als "Anti-Lösungs-Ansatz" übersetzen lässt.

Der antisolutionistische Ansatz – besonders im Hinblick auf das palästinensische Thema – war zurechtgeschnitten auf die politischen Erfordernisse der Mitte-Rechts-Koalitionen, die Israel seit etwa 15 Jahren regieren. Die Vermeidung des palästinensischen Themas erlaubte es Mitgliedern dieser Koalitionen, eigene Meinungsverschiedenheiten auszublenden. Diese Herangehensweise diente letztlich dem Zweck der Siedlerbewegung. Der Antisolutionismus, dem eine offizielle israelische Politik hinsichtlich der Siedlungen fehlte, erlaubte den Siedlern, sich weitestgehend ungestört auszubreiten. Einzige Bedingung war eine gewisse Zurückhaltung, um Druck seitens der internationalen Gemeinschaft zu verhindern.

Antisolutionismus stand für den Versuch rechter politischer Kräfte in Israel, die Bedeutung von Friedensschaffung neu zu definieren. Statt sich mit schwierigen, politisch kostspieligen Entscheidungen zu befassen, waren sie der Auffassung, dass der israelisch-palästinensische Konflikt geregelt und kontrollierbar sei. Anstelle eines politischen Kompromisses gingen sie davon aus, dass Frieden durch die schrittweise Verwässerung des Konflikts erreicht werden könne. Netanjahus ökonomischer Friedensplan konzentrierte sich beispielsweise darauf, die Lebensqualität der Palästinenser zu verbessern, um politische Meinungsverschiedenheiten nebensächlich werden zu lassen. Die Initiative des Wissenschaftlers Micah Goodman, "den Konflikt zu schrumpfen", die sich großer Beliebtheit im Kabinett von Naftali Bennett und Yair Lapid erfreute, zielte darauf ab, "den Umfang des Konflikts durch die Förderung realistischer, umsetzbarer Pläne und politischer Empfehlungen zu reduzieren". Man behauptete, der Abbau von Spannungen könne den Konflikt vollständig auflösen. In den 2010er Jahren schien Antisolutionismus gut zu den politischen Bedingungen im Nahen Osten und insbesondere der palästinensischen Arena zu passen. Die Spaltung zwischen der Hamas in Gaza und der Fatah im Westjordanland schuf eine handfeste Repräsentationskrise für die Palästinenser, da beide Rivalen Anspruch darauf erhoben, für die "nationale Sache" einzutreten. Folglich lieferten sie Israels rechtsgerichteten Regierungen eine komfortable Rechtfertigung für ihre Ablehnung, sich erneut auf einen politischen Prozess mit der palästinensischen Seite einzulassen.

Das Ergebnis eines Jahrzehnts der Untätigkeit auf diplomatischer Ebene und der ausschließliche Fokus auf Konfliktmanagement hat dazu geführt, dass Israels Feinde das Heft des Handelns in die Hand genommen haben. Statt zu versuchen, zu gestalten, war Israel nun in der reaktiven Rolle. Angetrieben von politischen Fehlanreizen und rigiden Vorstellungen konzentrierten sich die israelischen Entscheidungsträger auf die sinnlose Übung, den Status quo aufrechtzuerhalten und ignorierten, dass Israel sein Gewicht gegenüber der iranischen "Achse des Widerstands" und insbesondere der Hamas langsam einzubüßen schien.

Israels gescheiterte Politik gegenüber der Hamas ist ein anschauliches Beispiel für die Unzulänglichkeiten des politisch motivierten Antisolutionismus. Die Haltung gegenüber der Hamas im Laufe des vergangenen Jahrzehnts beruhte im Wesentlichen auf zwei Strategien: Erstens, die Abschreckung mittels dosierter militärischer Reaktionen auf Angriffe der Hamas aufrechtzuerhalten; zweitens, die Regierungsfähigkeit der Hamas in Gaza weiter zu ermöglichen, indem man Katar zugestand, umfangreiche finanzielle Unterstützung an die Hamas zu leisten. Diese Politik kam den Zielen der politischen Rechten in Israel entgegen, weil so die Spaltung zwischen dem von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) regierten Westjordanland und Gaza zementiert wurde und man sich nicht mehr mit einer Zweistaatenlösung befassen musste. Oder um es in den Worten des Finanzministers Bezalel Smotrich zu sagen: "[H]insichtlich der internationalen Arena ist die Hamas ein Trumpf und die PA eine Bürde".

Metaphorisch gesprochen, zählt Israels Politik des Konfliktmanagements mit zu den ersten Opfern des 7. Oktobers. Die Strategie, den Konflikt mit der Hamas zu kontrollieren und gleichzeitig die PA zu schwächen, ist eindeutig gescheitert, da beide Ziele dieser Politik nicht erreicht wurden – die Hamas ließ sich durch begrenzte Vergeltungsmaßnahmen nicht abschrecken. Stattdessen nutzte sie den Glauben Israels in seine scheinbar wirksame Abschreckung, um in Ruhe den Überraschungsmoment am 7. Oktober vorzubereiten. Die enorme finanzielle Unterstützung Katars erlaubte es der Hamas, sich bis an die Zähne zu bewaffnen und den Gazastreifen für einen zukünftigen Krieg aufzurüsten.

Infolgedessen werden die Vorzüge des Antisolutionismus in der israelischen Öffentlichkeit und unter Entscheidungsträgern mehr und mehr infrage gestellt. Umfragen aus den ersten vier Kriegsmonaten zeigen zwar widersprüchliche Trends im Hinblick der Einstellungen der Israelis zum Tag nach dem Krieg, doch einer ist eindeutig: Die Weiterführung des Konfliktmanagements wird abgelehnt und soll durch entschlossene Maßnahmen mit langfristiger Wirkung ersetzt werden. Laut einer Umfrage, die das Mitvim-Institut einen Monat nach Kriegsbeginn durchgeführt hat, unterstützen nur 5 Prozent die Strategie aus der Zeit vor dem 7. Oktober, und weniger als 10 Prozent unterstützten die Fortsetzung der bisherigen Politik des Konfliktmanagements mit der Hizbullah. Die Öffentlichkeit und die Politik in Israel stehen damit an einem kritischen Scheideweg mit zwei Optionen: Annexion der palästinensischen Gebiete und die faktische Annullierung des Oslo-Friedensprozesses und der PA, was vom harten Kern der politischen Rechten vertreten wird. Oder aber ein neuer Versuch, die PA als legitime und handlungsfähige politische Kraft wiederzubeleben und die Bemühungen um eine einvernehmliche Lösung mit den Palästinensern neu aufzunehmen. Eine Friedensvision wird also zur Notwendigkeit, von deren Wert die Israelis überzeugt werden müssen und deren Scheitern schwerwiegende Folgen für Israels Zukunft mit sich brächte.

Aus den Trümmern zum Frieden

Eine weitreichende Vision während des fortlaufenden Kriegs zu entwickeln, dessen Ausgang und Auswirkungen offen sind, bleibt ein komplexes Unterfangen. Vor allem erfordert es eine Anpassung an die sich verändernde Realität und ein feines Gleichgewicht aus kreativen Ideen und realistischer Umsetzung. Das von mir vorgeschlagene Szenario basiert auf vier Hauptprinzipien:

  • Unmittelbare Bedürfnisse anerkennen: Damit ein Friedensplan öffentliche und politische Unterstützung erhält, sollte er mit einer vorbereitenden Rehabilitierungsphase eingeleitet werden. Er muss gleichermaßen die dringenden Bedürfnisse der Israelis und Palästinenser berücksichtigen und eine greifbare Veränderung ihrer Lebenswirklichkeit in Aussicht stellen. Das wichtigste unmittelbare Bedürfnis ist in dieser Hinsicht die Wiederherstellung der lebenserhaltenden Systeme und der grundlegenden Lebensqualität, sowohl in Gaza als auch im Westjordanland. Für die Israelis besteht die wichtigste Priorität darin, das Sicherheitsgefühl wiederherzustellen und die Rückkehr der mehr als 100.000 Israelis zu ermöglichen, die aus den Grenzgebieten evakuiert wurden.

  • Klare Zieldefinition von Beginn an: Um die Unterstützung der Palästinenser und der regionalen Akteure für entsprechende Schritte zum Frieden sicherzustellen, müssen sie als Meilensteine eines breiteren Plans für eine Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt gesehen werden.

  • Paradigmenwechsel hin zu einem "sich entwickelnden Frieden" und einer Zweistaatenrealität wagen: Dieser Strategieplan basiert auf einem neuen Ansatz, der die Festlegung eines übergeordneten politischen Horizonts mit der Förderung praktischer Veränderungen in der politischen Realität verbindet. Er konzentriert sich darauf, eine Reihe praktischer Schritte zu definieren, um unmittelbare Bedürfnisse abzudecken, aber auch um langfristige politische Wirkung bei der Schaffung und Erhaltung einer Zweistaatenrealität zu erzielen, etwa durch den Aufbau palästinensischer staatlicher Kapazitäten, einschließlich territorialer Integrität.

  • Die Verbindung zwischen regionalen und internationalen Dynamiken nutzen: Die Friedensbestrebungen sollten parallel auf drei Wirkungsebenen (global, regional, israelisch-palästinensisch) mit den relevanten Akteuren vorangetrieben werden. Diese Strategie beruht auf dem erneuerten Interesse der internationalen Gemeinschaft am israelisch-palästinensischen Konflikt sowie auf dem politischen Einfluss, den Partner wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate angesichts fortschreitender Normalisierungsbemühungen auf Israels Entscheidungsfindung haben.

Erste Phase: Übergang vom Krieg hin zur Rehabilitation

Die erste Phase des Fahrplans sollte die notwendigen Bedingungen schaffen, um den Krieg zu beenden und eine erste politische Wiederannäherung zu ermöglichen. Vor allem sollte sie so gestaltet werden, dass sie den Israelis und Palästinensern wieder Hoffnung gibt. Die Kraft, die diese Phase antreibt, speist sich aus dem Willen hin zur Rehabilitation und zum Wiederaufbau.

Das Augenmerk dieser Phase liegt auf zwei Bereichen. Zunächst geht es um die Wiederherstellung lebenserhaltender Systeme wie etwa des öffentlichen Gesundheitssystems und der Lebensmittel- und Wasserversorgung. Über den humanitären Bedarf hinaus können diese Schritte als Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen Israel und internationalen Akteuren dienen. Die Wiederherstellung lebenserhaltender Systeme soll die erste Phase für den Wiederaufbau Gazas bilden. Es kann darauf die Nahost-Version eines "Marshallplans" für Gaza und das Westjordanland folgen (mit einer möglichen Einbeziehung israelischer Städte und Dörfer im Grenzgebiet zum Gazastreifen).

Ein Aktionsplan für den Frieden sollte zudem eine Übergangslösung für die Verwaltung des Gazastreifens enthalten. Während viele Stimmen die PA in Gaza als bevorzugte Regierung für die Zeit nach dem Krieg betrachten, ist auch klar, dass sie derzeit nicht über die Kapazität und Legitimität verfügt, um die Kontrolle in diesem Gebiet wiederzuerlangen, geschweige denn, um die massiven Herausforderungen zu bewältigen, die durch großflächige Zerstörungen entstanden sind. Eine Übergangslösung könnte in der Entsendung einer multinationalen Friedenstruppe (MPF) liegen. Die MPF könnte zunächst die grundlegende Sicherheit der Bevölkerung in Gaza gewährleisten und zugleich Angriffe auf Israel verhindern. Ein Modell könnte etwa die Kosovo-Truppe (KFOR) sein. Sie müsste ferner die Arbeit einer Zivilverwaltung ermöglichen und schließlich erste Maßnahmen des Wiederaufbaus begleiten, damit die Energie- und Wasserversorgung rasch wiederhergestellt wird und keine Gefahr von Kriegsgerät, den zerstörten Tunneln der Hamas und ungeklärtem Abwasser ausgeht. Die MPF müsste ihre Mission in enger Abstimmung mit den israelischen Behörden und Streitkräften umsetzen. In dieser Hinsicht ist anzunehmen, dass Israel darauf besteht, die Sicherheitskomponente der MPF durch westliche Streitkräfte (vorzugsweise der USA oder der Nato) übernehmen zu lassen, während es die zivilen Aufgaben und den Wiederaufbau Beteiligten aus arabischen Ländern wie Ägypten und den VAE überließe.

Zweitens erfordert der Aktionsplan ein erneuertes israelisches Bekenntnis zum politischen Horizont einer Zweistaatenlösung. Den palästinensischen, regionalen und internationalen Akteuren sollte glaubhaft versichert werden, dass sich Israel dem politischen Ziel verpflichtet, einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu ermöglichen, der friedlich neben Israel existiert. Israels Bekenntnis ist entscheidend, weil es den Palästinensern und regionalen Akteuren den notwendigen Kontext bietet, um zukünftige Maßnahmen israelischer Politik einordnen zu können, die andernfalls als ein erneuter Versuch des Konfliktmanagements betrachtet werden könnten.

Der Übergang vom Krieg hin zur politischen Einigung wird gewiss nicht auf einen Handstreich erfolgen. Wahrscheinlich wird es eine Phase begrenzter Kriegführung mit schwankendem Gewaltniveau und allgemeiner Ungewissheit geben. Trotzdem erfordert solch ein Wandel einen Wendepunkt für Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit, damit beide ihre Denkweise verändern. Ein internationaler Friedensgipfel könnte so ein transformatives Ereignis darstellen, das den Übergang vom Krieg zur Friedensschaffung markiert. Der Hauptwert wäre in erster Linie symbolisch. Ein Gipfel bietet ein alternatives Fotomotiv für einen israelischen Sieg in Gaza, das nicht militärischer Natur ist, sondern sich auf ein globales Bekenntnis zum Akt der israelisch-palästinensischen Friedensschaffung richtet.

Der Politikwissenschaftler Arie Kacowicz versteht einen internationalen Gipfel als eine notwendige, allerdings nicht ausreichende politisch-diplomatische Komponente eines Fahrplans hin zum Frieden. Ein solcher Gipfel hätte eine Signalwirkung im Hinblick auf den Beginn des Wiederaufbaus im Gazastreifen unmittelbar nach dem Krieg, sowie für Friedensverhandlungen zugunsten einer verhandelten Konfliktlösung zwischen Israelis und Palästinensern.

Ein zusätzlicher Wert solch einer Konferenz besteht darin, das internationale Engagement in den israelisch-palästinensischen Friedensbemühungen zu bekräftigen. Der russische Überfall auf die Ukraine hatte zur Folge, dass das Nahost-Quartett (bestehend aus den Vereinigten Staaten, den Vereinten Nationen, Russland und der Europäischen Union) sein Ziel, gemeinsam die israelisch-palästinensische Friedensschaffung voranzutreiben, nicht erreichen konnte. Eine internationale Friedenskonferenz könnte als Plattform dienen, eine neue Allianz für dieses Unterfangen zu schmieden. Eine Schlüsselrolle würde darin den USA und potenziellen Partnern des israelisch-arabischen Normalisierungsprozesses (Saudi-Arabien, den VAE sowie Bahrain) zukommen, nebst Ägypten, Katar, Jordanien, der EU und zusätzlichen internationalen Schlüsselakteuren (beispielsweise China, sollten sich die USA dafür offen zeigen).

Zweite Phase: Infrastruktur für den Friedensprozess

Das Hauptziel dieser Phase besteht darin, den Boden für die Wiederaufnahme eines israelisch-palästinensischen politischen Prozesses zu bereiten, indem man sich auf zwei Aktionsfelder konzentriert.

Erstens sollte eine groß angelegte wirtschaftliche Entwicklung des Westjordanlands und Gazas als Einheit in Angriff genommen werden, teils durch die Einbeziehung in umfassendere regionale Megaprojekte – etwa in den von den USA angeführten Plan, einen Wirtschaftskorridor Indien–Nahost–Europa einzurichten oder der saudischen Planung für eine neue Stadt am Roten Meer (Neom). Ähnlich wie Israel könnte Gaza in der Zeit nach der Hamas seine geografische Lage nutzen, um als eine interregionale Schnittstelle zwischen der "Wüste" (Nahost) und der See (Mittelmeer) zu dienen.

Außerdem sollte der PA als handlungsfähiger und legitimer palästinensischer Institution durch den Aufbau nationaler Kapazitäten und übergreifende Reformen neues Leben eingehaucht werden. In dieser Phase würde die Autonomiebehörde stufenweise die Kontrolle über Gaza übernehmen, und das Tempo dieser Übergabe müsste vom Fortschritt ihres inneren Reformprozesses abhängig gemacht werden.

Das Paradigma eines sich entwickelnden Friedens – also die Förderung einer Reihe praktischer Schritte, die das Potenzial in sich tragen, die politische Realität langfristig zu verändern – würde als Hauptstrategie dienen, um die PA zu revitalisieren. Den Israelis wird dieser Prozess Gelegenheit geben, ihre Beziehungen zu einer neuen, im Entstehen begriffenen palästinensischen Führung mittels politischer Schritte und vertrauensbildender Maßnahmen neu zu gestalten. Dazu gehören:

  • Eine Veränderung der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland – einschließlich der Genehmigung von Bebauungsplänen für palästinensische Städte und Dörfer. Zu einer späteren Phase sollte Israel zudem erwägen, die administrative Kontrolle über weitere Teile des Westjordanlands an die PA zu übertragen. Israel sollte ferner Hindernisse für die internationale Entwicklung der palästinensischen Infrastruktur in diesen Gebieten beseitigen.

  • Die Schaffung eines gemeinsamen israelisch-palästinensisch-regionalen Mechanismus zur Verwaltung des sogenannten heiligen Beckens von Jerusalem. Kurzfristig könnte dieser Mechanismus als effektives Mittel zur Konfliktvermeidung dienen. Langfristig würde es auch die PA in zukünftige Verhandlungen zu einem Kernthema involvieren – Souveränität in Ost-Jerusalem – und eine politische Schnittstelle für regionale Akteure bieten, vor allem Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko, um die Beteiligung dieser Länder an der israelisch-palästinensischen Friedensschaffung zu stärken.

  • Das Vorantreiben der Energie- und Wasserunabhängigkeit im Westjordanland und in Gaza durch umfangreiche Investitionen in Kraftwerke, erneuerbare Energien und Wassermanagementsysteme. Die Hauptpriorität läge dabei auf gemeinsamen israelisch-palästinensisch-regionalen Projekten. Kurzfristig könnte die Entwicklung palästinensischer Energieunabhängigkeit dabei helfen, die unmittelbare Strom- und Wasserknappheit im Westjordanland zu lindern, langfristig dürfte sie die staatlichen Kapazitäten der PA stärken.

Um als zuverlässiger Partner für die Friedensschaffung zu fungieren, muss die PA einer Reihe von Strukturreformen unterzogen werden, die von den USA, internationalen Partnern und arabischen Staaten angeleitet und überwacht werden sollten. Die Reformen müssten eine Erneuerung des Sicherheitsapparats und des Finanzsystems beinhalten. Ein Hauptfokus sollte darauf gelegt werden, das Bildungssystem zu reformieren, das momentan ein Treiber für Aufwiegelung und Hassrede gegen Israelis und Juden ist. Diese Phase müsste durch Wahlen im Westjordanland und in Gaza abgeschlossen werden.

Israels Politikwechsel hin zu einem politischen Prozess würde auch die Grundlage für eine Verbesserung der strategischen Koordination und Normalisierung mit der arabischen Welt schaffen. Es ist zugleich zu vermuten, dass eine neue Diskussion über die Wiederaufnahme von Verhandlungen und die Entwicklung einer neuen politischen Ordnung in Gaza einen iranischen Versuch provozieren würden, diese Bemühungen zunichte zu machen. Die Auseinandersetzung mit gemeinsamen Sicherheitsinteressen und -sorgen Israels und der Region umfasst bestenfalls auch von den USA angeführte Bemühungen zum Bau einer regionalen Sicherheitsarchitektur der moderaten Kräfte im Nahen Osten, um die regionalen Bestrebungen Irans einzudämmen. Israel könnte eine Schlüsselrolle innerhalb einer solchen Allianz spielen. Die Bildung dieser Allianz dürfte in Israel auch die öffentliche Unterstützung einer Wiederaufnahme des politischen Prozesses mit den Palästinensern erhöhen.

Dritte Phase: Wiederaufnahme von Verhandlungen

Die Wiederaufnahme direkter Verhandlungen sollte auf die Arabische Friedensinitiative (2002) aufbauen, also die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt im Gegenzug für das Zustandekommen eines umfassenden Friedensabkommens zwischen Israel und den Palästinensern. Die Verhandlungen sollten darauf abzielen, einen tragbaren palästinensischen Staat zu schaffen, der das Westjordanland und Gaza verwaltet und sich zu einer friedlichen Koexistenz mit Israel verpflichtet. Parallel böte sich die Gelegenheit, einen übergreifenden Normalisierungsprozess zwischen Israel und gemäßigten Ländern in der arabischen Welt einzubeziehen und somit eine langfristige und homogene Eingliederung Israels in den Nahen Osten zu ermöglichen.

Fazit

In diesem Beitrag habe ich versucht, einen Drei-Phasen-Plan zu entwerfen, um – ausgehend von den schrecklichen Ereignissen am 7. Oktober und dem anschließenden Krieg in Gaza – der Rückkehr hin zu einem Prozess der Friedensschaffung Triebkraft zu verleihen.

In Einklang mit der gängigen Auffassung, dass die Chancen umso größer sind, je größer die Krise ist, habe ich sowohl die posttraumatische Suche Israels nach neuen Strategien sowie Veränderungen in der regionalen und internationalen Priorisierung des Konflikts als Möglichkeiten hervorgehoben, einen Wandel hin zu entschiedeneren Bemühungen der Friedensschaffung herbeizuführen. Wenn es um einen Paradigmenwechsel geht, sollte man allerdings an die Erkenntnis des Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn erinnern, dass so ein Umbruch von dem Milieu abhängt, das ihn repräsentiert. Um den 7. Oktober 2023 in den 6. Oktober 1973 zu verwandeln – also ein nationales Trauma in einen Ausgangspunkt hin zu Frieden zu verändern –, braucht es nicht nur eine neue Vision, sondern auch neue Führungen in Gaza, in Ramallah und in Westjerusalem.

Aus dem Englischen von Maximilian Murmann, München

ist promovierter Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des israelischen Thinktanks Mitvim – The Israeli Institute for Regional Foreign Policies. Er ist Gastwissenschaftler an der Hertie School Berlin und lehrt dort Internationale Politik des Nahen Ostens und Sicherheitsstudien.