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Der Nahe Osten zwischen Aufbruch und Staatszerfall | Naher Osten | bpb.de

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Der Nahe Osten zwischen Aufbruch und Staatszerfall Ein Rückblick

Henner Fürtig

/ 18 Minuten zu lesen

Die strategische Bedeutung der Nahost-Region ist für die meisten der dortigen Staaten nachteilig: Eine schwierige Nationenbildung und ideologische Grabenkämpfe haben einige an den Rand des Zerfalls gebracht.

In den südlichen und östlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers sowie auf der Arabischen Halbinsel und in Iran, landläufig als Naher Osten beziehungsweise im englischen Sprachraum "Middle East" bezeichnet, leben aktuell knapp 494 Millionen Menschen. Weite Teile der Region sind sehr fruchtbar, nicht von ungefähr finden sich hier älteste Spuren menschlicher Zivilisation. Spätestens seit dem Zeitalter der Industrialisierung wurde der Nahe Osten zudem durch seinen enormen Ressourcenreichtum, insbesondere an Erdöl und Erdgas, bekannt. Trotzdem gilt die Region seit Jahrzehnten als ökonomischer und politischer Problemfall, als nahezu permanenter Krisenherd. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Je nach Prioritätensetzung bieten sich viele Ursachen an, bei keiner Übersicht dürfen jedoch die folgenden vier Gründe fehlen, die deshalb im Mittelpunkt der Untersuchung stehen sollen.

Trugbild der arabischen Einheit

Bis auf wenige Ausnahmen, vor allem in der Levante, war der Nationalstaatsgedanke in der arabischen Bevölkerung des Nahen Ostens zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur gering ausgebildet. Die Menschen sahen sich primär als Untertaten des osmanischen Sultans, der in seiner Eigenschaft als Kalif den meisten auch religiöser Anführer war. Erst der Erste Weltkrieg veränderte diese Situation mit seiner Konfrontation zwischen Entente und Mittelmächten, zu denen auch das Osmanische Reich gehörte, grundsätzlich.

Mit der Zusage, sie nach dem Sieg bei der Errichtung eines eigenen Staats zu unterstützen, gelang es den Briten, die Araber unter der Führung des Scherifen Hussain von Mekka zu einem Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Diese gingen folgerichtig nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs von der Einlösung der britischen Versprechen aus. Arabisches Nationalgefühl manifestierte sich also auf nachdrückliche Weise zum ersten Mal im 20. Jahrhundert mit dem Ziel der Errichtung eines eigenen Staats. Idealerweise sollte nun ein arabischer Kalif einen einheitlichen arabischen Großstaat regieren. Hier stand eindeutig das osmanische Modell Pate. Es kam jedoch ganz anders.

London und Paris hatten sich bereits 1916 im sogenannten Sykes-Picot-Abkommen über die Aufteilung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs geeinigt. Dieses Abkommen steht am Beginn der nahezu vollständigen kolonialen Durchdringung des arabischen Raums nach dem Ersten Weltkrieg. Ein vom 1920 gegründeten Völkerbund eingerichtetes "Mandatssystem" gab dem Vereinigten Königreich und Frankreich das "Recht", die ehemaligen osmanischen Provinzen fortan zu regieren. Das Mandatssystem schuf so zwar die völkerrechtlichen Grundlagen für die künftige Anerkennung der neuen Einheiten als Staaten, aber die eigentliche Macht blieb in den Händen der europäischen Kolonialmächte. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg erlangten einige Mandatsgebiete die formale Unabhängigkeit und schufen staatliche Institutionen. Das zielte aber vor allem darauf ab, Stabilität als notwendige Bedingung für die Verwirklichung der wirtschaftlichen und geopolitischen Ziele der Mandatsmächte zu schaffen. Die Stabilität war allerdings grundsätzlich durch die Tatsache beeinträchtigt, dass die Mandatszuteilung primär nach britischen und französischen Interessen erfolgt war und die lokalen Gegebenheiten weitgehend missachtete. Historische Wurzeln, kulturelle Prägung, konfessionelle und ethnische Bedingungen spielten nur eine untergeordnete Rolle. Dadurch entstanden oft künstliche Gebilde mit schwacher Selbstidentität, in denen verschiedene rivalisierende ethnische Gruppen, Religionen und Sprachen in einem Dauerkonflikt standen. Nationalgefühl konnte so nicht auf natürliche Weise wachsen, sondern entwickelte sich erst im Zuge des Kampfs gegen die Fremdherrschaft.

Die Herausbildung eines differenzierten arabischen Staatensystems zeitigte aber auch gravierende Folgen für den arabischen Einheitsgedanken. Für die gegen die Kolonialmächte kämpfende Bevölkerung ging es jetzt primär um die nationale Selbstbestimmung der abhängigen Territorien und nur sekundär um die Herstellung der arabischen Einheit. Im Sinne einer Ursachen-Folgen-Gleichung konnten nur real unabhängige Nationalstaaten die arabische Einheit in einem zweiten Schritt herbeiführen. Gegen die reale Unabhängigkeit stemmten sich zwischen den Weltkriegen aber nicht nur die Kolonialmächte, sondern zunehmend auch die von ihnen geschaffene Kaste von einheimischen Nutznießern in Regierung, Verwaltung und Wirtschaft. Diese fürchtete – nicht zu Unrecht – um ihre Privilegien bei einer "von unten" errungenen nationalen Unabhängigkeit. Folglich richtete sich der Kampf der nationalen Befreiungsbewegungen nun gegen die Kolonialherren und ihre lokalen Kollaborateure.

Aus der Defensive heraus versuchten die arabischen Herrscher jetzt, den Einheitsgedanken für sich zu instrumentalisieren. So gelang zwar am 22. März 1945 die Gründung der Arabischen Liga, Rivalität und Eifersucht unter den verhandelnden Mächten hatten aber nur einen sehr kleinen gemeinsamen Nenner erlaubt, was die Liga fast handlungsunfähig machte. Die Gegnerschaft zum UN-Teilungsplan für Palästina vom November 1947 und zur Gründung Israels am 14. Mai 1948 sollte für die bedrängten Herrscher nun zum nächsten Vehikel werden, um gesamtarabischen "Patriotismus" zu beweisen. Daraus entstand faktisch ein Verhaltensmuster auch für spätere Generationen arabischer Staatsführer. Der Versuch der Potentaten, Israel einen Tag nach der Staatsgründung durch einen Krieg in die Knie zu zwingen, endete jedoch mit einer verheerenden Niederlage. Damit hatten die alten Eliten aus der Kolonialzeit ihr letzten Kapital in der Bevölkerung verspielt. Ab den 1950er Jahren beendeten nationale Befreiungsbewegungen sukzessive die Herrschaft ebendieser Eliten und erkämpften zudem die tatsächliche Unabhängigkeit von den zunehmend geschwächten Kolonialmächten, dem Vereinigten Königreich und Frankreich.

Die national befreiten Staaten wurden von einer enormen Aufbruchsstimmung erfasst. Die Führer der jeweiligen nationalen Befreiungsbewegungen übernahmen die Herrschaft und versprachen Wohlstand, Stabilität und Fortschritt. Jetzt erfuhr auch der arabische Einheitsgedanke eine deutliche Belebung. Das bevölkerungsreichste arabische Land, Ägypten, unter der Führung seines charismatischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser setzte sich an die Spitze dieser Bewegung. Die Herstellung der arabischen Einheit über den Zwischenschritt der Vereinigung souveräner Nationalstaaten schien keine Utopie mehr zu sein. 1958 schlossen sich Ägypten und Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen, der später auch der Jemen beitrat. Auch in den Führungen anderer kolonial befreiter arabischer Staaten setzten sich in der Regel Kräfte durch, die sich die Herstellung der arabischen Einheit auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Bekannt wurde hier insbesondere die Partei der (gesamt)arabischen "Wiedergeburt" (Baath), die in den 1960er Jahren die Macht in Syrien und im Irak übernahm.

Weitere Schritte auf dem Weg der Herbeiführung der Einheit blieben jedoch aus. Das lag vor allem an der Unterschätzung nationaler Eigeninteressen. Nasser konnte sich die Einheit nur unter ägyptischer, das heißt seiner Führung vorstellen. Seine unverhohlenen Dominanzbestrebungen ließen die Vereinigte Arabische Republik schon 1961 auseinanderbrechen. Auch die regionalen Führungen der Baathpartei in Syrien und im Irak rivalisierten miteinander und gaben keine reale Macht an supranationale Institutionen der Partei ab. Das Hegemoniestreben der im Zuge des antikolonialen Kampfs an die Macht gekommenen Regimes beeinträchtigte jedoch nicht nur den Einheitsprozess, sondern prägte auch die Entwicklung der von ihnen regierten Gesellschaften. Es waren in der Regel Militärs, die an der Spitze der Befreiungsbewegungen gestanden hatten. Sie übertrugen nun die ihnen bekannten Kommandostrukturen auf die Politik und die Wirtschaft ihrer Länder. Dadurch bildete sich eine verhängnisvolle Regel, ein "ungeschriebenes Gesetz" heraus: die Führung sorgt für das – relativ – kommode Auskommen der Regierten und wird von diesen im Gegenzug nicht mit Forderungen nach Partizipation "behelligt". Im Gefolge dieser Regel blieb in den jungen Staaten die Herausbildung von belastbaren Beteiligungsmechanismen aus; sie wurden durch dirigistische, oft zudem dysfunktionale Institutionen ersetzt. Je deutlicher die jeweiligen Führungen ihren Teil des Versprechens, die Sicherung von Wohlstand, Fortschritt und Würde nicht einhalten konnten, desto rigider wurden ihre Methoden, die Regierten an der Durchsetzung politischer Partizipation zu hindern. So wurden ab Mitte der 1960er Jahre die meisten der ehemals kolonial abhängigen Staaten von autoritären Regimen beherrscht, die die Interessen der Bevölkerung missachteten und ihre Politik primär auf die Herrschaftssicherung ausrichteten. So verblassten die Utopien des Panarabismus ebenso wie das Charisma ihrer wichtigsten Protagonisten, allen voran Gamal Abdel Nasser. Dessen vollständige Niederlage im dritten arabisch-israelischen Krieg ("Sechstage-" oder auch "Junikrieg") 1967 markiert faktisch den Endpunkt dieser Etappe.

Bisher stand die Entwicklung in den ehemals kolonial abhängigen Gebieten der arabischen Welt im Mittelpunkt. Der Dekolonisierungsprozess umfasste allerdings mehrere Jahrzehnte. Auch wenn wichtige arabische Staaten bereits während des Zweiten Weltkriegs, kurz darauf oder spätestens in den 1950er Jahren unabhängig wurden, endete die Phase erst 1972 mit der Gründung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Dieser Teil der arabischen Welt wies zudem noch andere erhebliche Unterschiede zu den bisher analysierten Staaten auf. Bei den sogenannten Golfstaaten, Saudi-Arabien, Kuwait, Oman, Bahrain, VAE und Katar, handelt es sich um Monarchien. Bis auf Saudi-Arabien waren zwar auch sie kolonial abhängig gewesen, aber hier verlief der Prozess der Staatsbildung aufgrund bestehender Traditionen und Strukturen wesentlich organischer als in den neu geschaffenen Republiken.

Je genauer der Blick auf den Nahen Osten ausfällt, desto mehr springen weitere Unterschiede ins Auge. Wir finden eben nicht nur Republiken neben Monarchien, sondern auch koloniale (zum Beispiel Irak) beziehungsweise nachkoloniale (zum Beispiel VAE) Neugründungen neben Ländern mit jahrtausendealter Staatstradition wie Ägypten. Kleine existieren neben großen Staaten, bevölkerungsreiche neben dünn besiedelten, arme neben reichen. Je weiter der Differenzierungsprozess voranschritt beziehungsweise offenbar wurde, je unrealistischer zeigte sich das Projekt der Herstellung einer (staatlichen) Einheit all dieser Länder. Das Projekt verkam zu einem Gegenstand von Sonntagsreden, zu einem Instrument für die Belebung der Gegnerschaft zu Israel und antiwestlicher Ambitionen. Faktisch vergeudete es über Jahrzehnte Kräfte, die die arabische Welt an anderer Stelle dringender benötigt hätte.

Brennpunkt Kalter Krieg

Im Nahen Osten treffen die Kontinente Asien, Afrika und Europa aufeinander, hier entstanden die drei großen monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Als wäre das noch nicht genug, lagert in dieser Region auch fast die Hälfte (48,3 Prozent) der Weltvorräte an Erdöl, dem wichtigsten Einzelrohstoff der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus all diesen Komponenten speist sich eine überragende strategische Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens in der internationalen Politik.

Die beiden Supermächte des Kalten Kriegs, die USA und die Sowjetunion, setzten deshalb gemeinsam mit ihren Verbündeten alles daran, ihren Einfluss in der Region zu stärken beziehungsweise den des Rivalen zu minimieren. Bis zum Ende der 1960er Jahre wurden die Hauptförderstätten (allein die fünf weltgrößten Erdölfelder befinden sich in der Region), von westlichen Unternehmen kontrolliert; der Westen behielt also per Saldo die Oberhand. Mit wichtigen Förderländern wurden auch politische Verträge geschlossen, einige (zum Beispiel Irak und Iran) traten auch der Central Treaty Organization (CENTO), der regionalen Suborganisation der NATO bei, die mit der Iranischen Revolution von 1979 Geschichte wurde.

Die Sowjetunion machte sich ihrerseits die Tatsache zunutze, dass westlichen Staaten als Kolonialmächte in der Region verhasst waren. Folglich gerierte sie sich als Schutzmacht und Unterstützerin der nationalen Befreiungsbewegungen und der aus diesen hervorgegangenen, unabhängigen Staaten. In vielen Ländern der Region entstanden machtvolle kommunistische Parteien, Nationalisten und Panarabisten, etwa die Baathpartei, "flirteten" mit dem Sozialismus. Nasser, die Gallionsfigur der arabischen Einheitsbewegung, gehörte zwar zu den Gründervätern der Bewegung der Blockfreien Staaten, Ägypten wurde unter seiner Führung aber letztlich doch im sowjetischen Orbit verortet. 1970, im Todesjahr Nassers, wirkten fast 20.000 sowjetische Militärs am Nil. 1967 entstand im Süden Jemens eine sozialistische "Volksdemokratische Republik", die der Sowjetunion – genau wie Somalia und Syrien – die Errichtung von Marinestützpunkten erlaubte. Selbst in den prowestlichen Hauptförderländern am Golf nahm die Sowjetunion Einfluss auf die außerordentlich populäre Bewegung zur Nationalisierung der Erdölvorkommen.

Mit der Verstaatlichung der Ölressourcen zu Beginn der 1970er Jahre war dem Westen ein wichtiges Kontrollinstrument verloren gegangen und gleichzeitig wuchs das internationale Gewicht der nun ihren Reichtum ausspielenden Förderländer. Trotzdem blieb die negative Wirkung der globalen Ost-West-Konfrontation auf die Entwicklung der Länder des Nahen Ostens grundsätzlich bestehen. Das Agieren als Stellvertreter der Supermächte lenkte von den primären Aufgaben der Nationenwerdung ab und mündete in eine gigantische Ressourcenverschwendung. Selbst die reichsten Förderländer gaben Unsummen für Rüstung aus und sorgten so für ein stetiges Petro-Dollar-Recycling in den Westen. Daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zählt drei Nahoststaaten, Saudi-Arabien, Katar und Ägypten, zwischen 2018 und 2022 zu den zehn weltgrößten Waffenimporteuren. Stellvertreterverhalten und "Überrüsten" machten die Region überdies seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem der konfliktträchtigsten Gebiete der Erde, wovon zahlreiche zwischen- und innerstaatliche Kriege zeugen.

Zugleich ließ der Ressourcenreichtum im Nahen Osten aber auch viele "Rentierstaaten" entstehen. Ein Staat fällt in diese Kategorie, wenn er sich in entscheidendem Maße durch Einnahmen aus externen Quellen, etwa dem Rohstoffexport, finanziert. Die Bevölkerung wird an den Einnahmen kaum oder gar nicht beteiligt. Nur so funktioniert das beschriebene Modell der Bereitstellung einer hinreichenden Lebensgrundlage durch den Staat bei gleichzeitigem Verzicht der Bevölkerung auf Machtteilhabe. Über die Jahre entfalteten sich Elemente des Rentierstaats auch in Nahoststaaten, die nicht zu den reichen Erdölförderländern gehören. Grundsätzlich beschränkt sich das Rentierstaatsmodell nämlich nicht nur auf Einnahmen aus dem Rohstoffexport, sondern schließt jede Einnahmequelle ein, die nicht mit interner Besteuerung oder der Entwicklung einer inländischen Produktionstätigkeit verbunden ist. Externe Einnahmen können zum Beispiel auch aus Überweisungen von Migranten, Transitgebühren oder Auslandshilfen erzielt werden. Um diese Kategorie von den Erdölexporteuren zu unterscheiden, verwenden einige Autoren den Begriff "Halbrentierstaaten" für Länder wie Tunesien, Jordanien, Ägypten, Marokko, oder den Libanon, das Wirkprinzip des Rentierstaates gilt aber – mit Ausnahme Israels – im gesamten Nahen Osten.

Paradoxerweise entstand in der Region während des Kalten Kriegs also ein prägendes gemeinsames Charakteristikum bei gleichzeitiger enormer Verschärfung der innerregionalen Widersprüche.

Konfrontation der Ideologien

Noch weit vor der nationalen Unabhängigkeit der Nahoststaaten entstand hier neben dem Nationalismus eine weitere Ideologie, die rasch an Einfluss gewann: der Islamismus. Die 1928 im ägyptischen Ismailia gegründete Muslimbruderschaft verkündete, dass der Islam die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme bereithalte, mithin nur umfassend angewendet werden müsse. Er dürfe nicht länger auf die Sphäre der Religion, auf das Jenseits, beschränkt werden, sondern müsse buchstäblich jeden Winkel des Alltagslebens bestimmen. Die starke Einbeziehung des Diesseits leitete aus dem Islam eine politische Ideologie ab, den Islamismus. Dem Motto "der Islam ist die Lösung" folgen bis in die Gegenwart Islamisten aller Couleur.

Die Errichtung einer islamischen Gesellschaft setzte das Ende der westlichen Kolonialherrschaft voraus; in dieser Hinsicht stimmten die Islamisten mit den Zielen der national geprägten Unabhängigkeitsbewegungen überein. Mit deren panarabisch ausgerichteter Strömung existierte sogar ein besonders hohes Maß an Parallelität. Die Bildung arabischer Nationalstaaten wurde dem Kolonialismus zugeschrieben. Die Unabhängigkeit dieser Staaten sollte aber nur eine Übergangsetappe auf dem Weg zu einer großen und mythischen arabischen "Einheit" sein. Erst dann sei der Kolonialismus wirklich überwunden. Jedes Land wurde daher als Region innerhalb der arabischen Welt und nicht als eigene Nation definiert. Im Zuge ihrer raschen Ausbreitung im Nahen Osten organisierte sich auch die Muslimbruderschaft in regionalen Kapiteln und schuf damit ein Muster, das die panarabische Baathpartei später aufgriff.

Die Islamisten lehnten jedoch den Nationalstaat grundsätzlich, selbst als Zwischenstadium des Einheitsstaats ab. Die "Ummah", die islamische (Welt-)Gemeinschaft, mag zwar in verschiedene Regionen unterteilt sein, aber keinesfalls in Nationen, ein Produkt westlicher Geschichte. Im Mittelpunkt islamistischer Politik steht also der Staat, nicht die Nation.

Damit geriet sie nach dem Zweiten Weltkrieg in einen immer größeren Widerspruch zur realen Entwicklung in der arabischen Welt. Selbstbewusste arabische Nationalstaaten entstanden, die sich die arabische Einheit nur unter ihrer jeweiligen Führung vorstellen konnten. Obwohl die Muslimbruderschaft bis dahin kaum militante Elemente entwickelt hatte und vornehmlich auf Erziehung und Vorbildwirkung setzte, wurde ihre antinationalistische Einstellung von den neuen Herrschern als Bedrohung empfunden. Gamal Abdel Nasser verbot sie 1954 in ihrem Geburtsland Ägypten. Die Gegenwehr hielt sich in Grenzen; die Straße gehörte dem triumphalen arabischen Nationalismus, gern auch im Gewand des Panarabismus. Seine Verheißungen versprachen eine schnellere Befriedigung und weniger Mühsal als der weite Weg bis zur Herrschaft der "Ummah".

Wie bereits beschrieben, verloren die aus den Unabhängigkeitsbewegungen hervorgegangenen und von einer militärisch-zivilen Elite geführten Regime peu à peu ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Volksmassen, weil sie nicht in der Lage waren, das Versprechen zu erfüllen, die Wirtschaft zu entwickeln und die Gesellschaft zu modernisieren.

Warum aber gelang es den nationalistischen Regimen nicht, die Wirtschaft zu entwickeln und die Gesellschaft zu modernisieren, obwohl sie sich zunächst so großer Beliebtheit erfreut hatten? Mangelnde Ressourcen bieten – wie ausgeführt – keine ausreichende Erklärung. Die Antwort lautet eher, dass die nationalistischen Führer nicht verstanden, worin die Modernität eigentlich bestand, die sie ihrem Volk versprachen. Für sie beschränkte sich Macht auf ihre wirtschaftlichen und militärischen Aspekte. Was sie übersahen, war das eigentliche Gefüge der Moderne, in dem die Zivilgesellschaft mit dem Markt und dem Staat interagiert. Die Grundlage der westlichen Moderne ist die Zivilgesellschaft, die wirtschaftlich als Markt und politisch als Rechtsstaat organisiert ist. Die arabischen Führer ignorierten diesen Zusammenhang. Sie lehnten die Zivilgesellschaft und den freien Markt ab, weil dadurch eine von ihnen unabhängige wirtschaftliche Macht entstehen könnte. Buchstäblich alle gesellschaftlichen Kräfte sollten sich der Exekutivgewalt unterordnen. Der nationalistische Diskurs war nur Rhetorik, eine Strategie zur ideologischen Rechtfertigung ihrer Politik.

Wie in kommunizierenden Röhren verbesserten sich mit dem Niedergang des arabischen Nationalismus die Aufstiegschancen des Islamismus. Neben seiner grundsätzlichen antiwestlichen Einstellung hatte er in den ersten Jahren seines Bestehens auch die soziale Basis mit dem Nationalismus beziehungsweise Panarabismus weitgehend geteilt: unterprivilegierte Bevölkerungsschichten, geführt von Intellektuellen und anderen Vertretern der Mittelklasse. Nachdem sich die Nationalisten als Oberschicht etabliert hatten, wurden die Islamisten – vor allem nach 1967 – zu den neuen Hoffnungsträgern der Unterschicht. Ihre Abkehr von allen westlich tradierten Gesellschaftsmodellen versprach den radikalsten Bruch mit bisherigen Experimenten, die die Armen und Benachteiligten nicht aus ihrem Elend geholt hatten. Die Muslimbrüder und zahlreiche Organisationen in ihrem Geiste wurden in vielen arabischen Ländern zur einflussreichsten Oppositionskraft, weil sie als kompromisslos und nicht korrumpierbar galten.

Mit der Iranischen Revolution von 1979 wurde der Islamismus erstmals von einer oppositionellen zu einer staatstragenden Macht. Obwohl viele Muslime den Umsturz in Iran als Ansporn und Ermutigung betrachteten, wurde Khomeinis "Islamische Republik" nicht zum Modell für die "Ummah". Dagegen sprach vor allem ihr exklusiver schiitischer Charakter. Vertreter des von der sunnitischen Mehrheit der Muslime geprägten Islamismus schafften es dagegen bisher in keinem anderen Nahoststaat, die Macht dauerhaft zu übernehmen. Im Gegenteil: Er spaltete sich immer weiter auf und entwickelte sukzessive immer mehr gewaltbereite, sogar terroristische Komponenten beziehungsweise Organisationen. Auf der anderen Seite hinterließ die (Selbst-)Paralysierung des arabischen Nationalismus beziehungsweise Panarabismus eine ideologische Leerstelle, die bisher nicht gefüllt werden konnte.

Gesellschaftliche Stagnation

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stieß das mehrfach beschriebene arabische Herrschaftsmodel zunehmend an seine Grenzen. Wirtschaft und Gesellschaft stagnierten, Krisenmerkmale häuften sich. Selbst zaghafte Wirtschaftsreformen, die seit Anfang der der 1990er Jahre in zahlreichen Nahoststaaten begonnen worden waren, gingen nicht mit politischen Reformen einher. Tatsächlich stärkten die Wirtschaftsmaßnahmen lediglich die Macht und die Privilegien der politisch-militärischen Elite. Korruption und Vetternwirtschaft breiteten sich weiter aus, in Ägypten verfügte die politische Klasse um Präsident Hosni Mubarak über fast 30 Prozent des Volksvermögens. Damit verabschiedete sie sich selbst von dem genannten Herrschaftsprinzip, den nationalen Reichtum, wenn auch ungleichmäßig und mit erheblichem Eigennutz, auf die verschiedenen sozialen Schichten zu verteilen. Zu diesem Verhalten trug sicherlich auch bei, dass sich die meisten arabischen Herrscher seit Jahrzehnten im Amt befanden und unter Selbstüberschätzung bei gleichzeitigem Realitätsverlust litten. Auf der anderen Seite gelang es den Regimen aber auch aus objektiven Gründen immer weniger, das Herrschaftsmodell aufrechtzuerhalten.

Zwischen 1970 und 2010, dem Beginn des "Arabischen Frühlings", hat sich die Bevölkerung des Nahen Ostens nahezu verdreifacht (von 128 auf 359 Millionen). Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und des Pro-Kopf-BIP der Region konnte diesen enormen Bevölkerungszuwachs jedoch nicht kompensieren. Das rasante Bevölkerungswachstum führte automatisch zu einem besonders hohen Anteil an Jugendlichen. Laut OECD machen Menschen unter 30 Jahren mehr als 55 Prozent der Bevölkerung im Nahen Osten aus, verglichen mit 36 Prozent der Bevölkerung in den OECD-Ländern. Während jedoch in letztgenannten Ländern Bildung in der Regel zu einem Arbeitsplatz und einem selbstbestimmten Leben führt, konnte auch ein akademischer Abschluss in der arabischen Welt keinesfalls vor Arbeitslosigkeit bewahren. Tatsächlich waren die Arbeitslosen- und Armutsquoten für Jugendliche in den Nahostländern 2009, nur ein Jahr vor dem Beginn des "Arabischen Frühlings" mit 25 beziehungsweise 41 Prozent außerordentlich hoch. Diese Perspektivlosigkeit, gepaart mit wachsender Wut auf die korrupten und repressiven Regime, trieb die jüngere Generation schließlich zur Rebellion.

Trotz aller Unterschiede war die Rebellion in der gesamten Region untrennbar mit bestimmten gemeinsamen Themen verbunden: den Forderungen nach politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Menschenwürde. Als sich im Januar 2011 große Menschenmengen auf dem Kairoer Tahrir-Platz versammelten, um gegen das repressive Regime von Mubarak zu protestieren, skandierten die Menschen den Slogan "Brot, Freiheit und Würde". Nun bewahrheitete sich nicht zuletzt der korrespondierende Teil des arabischen Herrschaftsprinzips: Wenn das Regime seinen Part nicht mehr erfüllt, fordert das Volk politische Mitsprache.

Bekanntlich erfasste der "Arabische Frühling" die arabischen Staaten auf unterschiedliche Weise. Auch aus den bereits genannten Gründen wurden Monarchien weniger erschüttert als Republiken, und selbst in diesen reichte die Spanne der Auswirkungen von bloßem Herrscherwechsel über blutigen Bürgerkrieg bis zum faktischen Staatszerfall. In keinem Fall hat der "Arabische Frühling" jedoch zur Einlösung seiner Ziele geführt. Die Aufstände waren spontan entstanden und verliefen in der Regel führerlos, ohne konsistentes Programm und mobilisierende Ideologie. Nachdem die Diktatoren gestürzt waren, bildeten sich unter den Aufständischen rivalisierende Gruppen, die sich gegenseitig schwächten. Damit gelang es den unter Druck geratenen traditionellen Eliten, sich wieder zu erholen: am sichtbarsten in Ägypten, wo das Militär unter dem ehemaligen General und heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi noch unangefochtener herrscht als vor dem "Arabischen Frühling". Nicht nur, dass die Gesellschaft weiter stagniert, Tendenzen des Staatszerfalls haben nach 2010/11 in der Region drastisch zugenommen.

Fazit

Es wäre sicherlich verfrüht, das Nationalstaatensystem im Nahen Osten generell infrage zu stellen, aber es ist unwahrscheinlich, dass Schlüsselstaaten wie Syrien und der Irak sowie Libyen und Jemen ihre frühere Verfasstheit wiedererlangen werden. Keiner von ihnen konnte eine kohärente nationale Identität entwickeln, und alle sind von tiefen gesellschaftspolitischen Spaltungen gezeichnet. Für sie gilt, was die UN 2005 als "gescheiterte Staaten" definierte, politische Einheiten, die kaum oder gar nicht in der Lage sind: ihren Bürgern grundlegende Sicherheit zu bieten. Darüber hinaus zeigen sich diese Staaten nicht in der Lage, die die Ausbreitung innerstaatlicher Unruhen über ihre Grenzen hinaus zu kontrollieren. Manche scheinen sogar versucht, sie zu exportieren, um die Bedrohung im eigenen Land zu verringern. Das heißt, Unruhen, die in gescheiterten Staaten entstehen, schaden auch ihrem Umfeld. Sie sind die größten Verursacher von humanitären Krisen, Vertriebenen und Flüchtlingen, sie gefährden die Stabilität der Regimes in den Nachbarstaaten. Sie bilden einen fruchtbaren Boden für das Aufkommen extremistischer und terroristischer Gruppen.

Immer noch sind aber diejenigen Staaten, die laut UN nicht als "gescheitert" gelten, auch im Nahen Osten die Mehrheit. Trotzdem leiden auch sie fast durchweg unter schlechter Regierungsführung, Korruption, schleppender Modernisierung und mangelnder Öffnung ihrer Wirtschaft. Hinzu kommt der Bevölkerungsdruck, vor allem das akute Problem des "Jugendüberschusses", bei gleichzeitigem Mangel an Arbeitsplätzen. Autoritäre Auswüchse und Menschenrechtsverletzungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Große Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung sowie nach Glauben und ethnischer Zugehörigkeit finden sich nur allzu häufig. Viele Länder in der Region scheinen nicht in der Lage zu sein, sich selbst zu helfen.

Nach Jahrzehnten der Entwicklungszusammenarbeit muss sich aber auch der Westen fragen, ob nun nicht ein Punkt erreicht ist, an dem Hilfe von außen tendenziell eher dazu beiträgt, Probleme zu verlängern als sie zu lösen. Ein Punkt, an dem die Unterstützung zulässt, dass die Probleme weiter schwelen und sogar wachsen, anstatt zu echten Fortschritten und Lösungen zu führen. Das soll natürlich kein generelles Plädoyer gegen Entwicklungszusammenarbeit sein, aber es scheint überfällig, sie in diesem Zusammenhang auf den Prüfstand zu stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. The World Bank, Population, total – Middle East & North Africa, fortlaufend aktualisiert, Externer Link: https://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.TOTL?locations=ZQ.

  2. Vgl. Adham Saouli, States and State Building in the Middle East, in: Raymond Hinnebusch/Jasmine K. Gani (Hrsg.), The Routledge Handbook to the Middle East and North African State and States System, London 2019, S. 42.

  3. Vgl. Kobi Michael/Yoel Guzansky, The Dangers of Failing Middle East States, in: Middle East Quarterly 2/2018, S. 4.

  4. Vgl. Andreas Jacobs, Failed Statehood. On the Causes of Upheaval and Conflict in the Middle East, in: Security Policy Working Paper 10/2017, S. 2.

  5. Vgl. NS Energy, Top Five Countries with the Largest Oil Reserves in the Middle East, 11.10.2019, Externer Link: http://www.nsenergybusiness.com/features/countries-oil-reserves-middle-east/.

  6. Vgl. ebd.

  7. Vgl. Edward R.F. Sheehan, Why Sadat Packed Off the Russians, in: The New York Times, 6.8.1972, S. 10.

  8. Vgl. Pieter D. Wezeman/Justine Gadon/Siemon T. Wezeman, Trends in International Arms Transfers 2022, SIPRI Fact Sheet, März 2023, S. 11.

  9. Vgl. Rolf Schwarz, War and State Building in the Middle East, Gainesville 2012, S. 121.

  10. Vgl. Olivier Roy, Islamism and Nationalism, in: Pouvoirs 1/2003, S. 45–53.

  11. Vgl. Lahouari Addi, Radical Arab Nationalism and Political Islam, Washington D.C., 2017.

  12. Vgl. Nadine Sika, The Political Economy of Arab Uprisings, Barcelona 2012, S. 8–14.

  13. Vgl. Volker Perthes, Europe and the Arab Spring, in: Survival: Global Politics and Strategy 3/2011, S. 30.

  14. Vgl. Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa, Youth at the Centre of Government Action: A Review of the Middle East and North Africa, 23.6.2022, Externer Link: http://www.oecd-ilibrary.org/sites/3ced02bf-en/index.html?itemId=/content/component/3ced02bf-en.

  15. Vgl. Barry Mirkin, Arab Spring: Demographics in a Region of Transition, New York 2013, S. 12–14, S. 17–19, S. 22–27.

  16. Vgl. Nurullah Ardıç, Understanding the "Arab Spring": Justice, Dignity, Religion and International Politics, in: Afro-Eurasian Studies 1/2012, S. 15–18.

  17. Vgl. Jacobs (Anm. 4), S. 3.

  18. Vgl. UN-Generalversammlung, Resolution 60/1: Ergebnis des Weltgipfels 2005, New York, 24.10.2005.

  19. Vgl. Michael/Guzansky (Anm. 3), S. 2.

  20. Vgl. Anthony H. Cordesman, The Greater Middle East: From the "Arab Spring" to the "Axis of Failed States, CSIS Working Paper, 20.8.2020, S. 3.

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ist Professor i.R. der Universität Hamburg und Associate Researcher am GIGA Institut für Nahost-Studien, das er bis 2018 leitete.